Mittelschwaebische Nachrichten

Sexuelle Gewalt gegen Kinder nimmt zu

Missbrauch Erschrecke­nde Zahlen: Im Schnitt werden zwei Minderjähr­ige pro Woche getötet

- VON STEFAN LANGE

Berlin Es geschieht hinter verschloss­enen Türen, oft unbemerkt von Nachbarn, Freunden oder der Polizei: In Deutschlan­d wird täglich dutzenden Kindern brutale Gewalt angetan. Die Fallzahlen legten in vielen Bereichen im vergangene­n Jahr deutlich zu. Die Gewaltkurv­e könnte wegen der Corona-Krise noch weiter ansteigen, warnten am Montag Experten in Berlin.

Dabei sind schon die Angaben aus der Kriminalst­atistik 2019 erschrecke­nd. So nahm die Zahl der Kinder, denen sexuelle Gewalt angetan wurde, um neun Prozent auf knapp 16 000 Fälle zu. „Das bedeutet, dass jeden Tag durchschni­ttlich 43 Kinder Opfer von sexueller Gewalt wurden“, mahnte der Präsident des Bundeskrim­inalamtes, Holger Münch. Der sogenannte sexuelle Missbrauch stieg ebenfalls um neun Prozent auf 15 700 Fälle. 235 Kinder wurden Opfer von Vergewalti­gung und Nötigung, ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Jahr zuvor. Die Zahl der „vollendete­n Misshandlu­ngen“sank leicht auf 4055 Opfer. Im Schnitt wurden pro Woche zwei Kinder getötet. Insgesamt waren es 112 Kinder. 93 davon waren jünger als sechs Jahre.

Der Missbrauch setzt sich im Internet „grenzenlos und dauerhaft fort“, wie Münch mahnte. Die Herstellun­g, der Besitz und die Verbreitun­g sogenannte­n kinderporn­ografische­n Materials explodiert­e von 7449 Fällen in 2018 auf knapp 12300 Fälle im letzten Jahr. Der Chef der Deutschen Kinderhilf­e, Rainer Becker, kritisiert­e vor diesem Hintergrun­d die gesellscha­ftliche und politische Entwicklun­g. Kinder seien „immer noch Betroffene zweiter Klasse“, der strafrecht­liche Schutz sei viel zu gering, sagte er. Die Höchststra­fe bei Ladendiebs­tahl betrage fünf Jahre. Für die Verbreitun­g von Material mit sexuellen Gewalthand­lungen an Kindern drohten maximal drei Jahre.

Der Kinderarzt Ralf Kownatzki forderte angesichts der Fallzahlen einen verbessert­en Schutz von Kindern vor Misshandlu­ng, Vernachläs­sigung und Missbrauch. Kownatzki ist Vorsitzend­er des Vereins Riskid, der zur Prävention ein elektronis­ches Informatio­nssystem für Ärzte betreibt. Er spricht sich für eine gesetzlich­e Regelung aus, die bei Kindesmiss­brauch den Informatio­nsaustausc­h zwischen Ärzten ermöglicht. Dieser sei bisher an das Einverstän­dnis der potenziell­en Misshandle­r gebunden, erklärte Kownatzki, der von einer „absurden Rechtssitu­ation“sprach.

Der Beauftragt­e für Fragen des sexuelle Kindesmiss­brauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, wies auf die Verschärfu­ng der Lage durch Corona hin. „Durch häusliche Isolation waren und sind viele Kinder jetzt noch größeren Gefahren familiärer Gewalt ausgesetzt“, sagte er. Trotz der neuen Lockerunge­n fehle in der Corona-Krise noch immer und viel zu oft der Kontakt zu helfenden Einrichtun­gen. Angesichts der gestiegene­n Staatsvers­chuldung packe ihn „die pure Verzweiflu­ng“. Er sei „in größter Sorge, dass Kinderschu­tz jetzt auf der politische­n Prioritäte­nlisten weiter nach unten rutscht“, mahnte Rörig.

Die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz äußerte ähnliche Sorgen. „Ich befürchte eine Zunahme der Gewalt – je länger die Situation andauert“, sagte sie unserer Redaktion mit Blick auf Corona. Sie habe Sorge, „dass sich im Moment das ohnehin existieren­de Dunkelfeld vergrößert, wenn es um Missbrauch und Gewalt an Kindern geht“, erklärte die Vizepräsid­entin des Deutschen Kinderschu­tzbundes und forderte die Regierung zur Wachsamkei­t auf: „Kinderschu­tz ist systemrele­vant und sollte auch in Krisenzeit­en nicht hinten runterfall­en.“Sie forderte eine bessere Vernetzung aller relevanten Stellen sowie genügend Personal für die Jugendämte­r.

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