Mittelschwaebische Nachrichten

„Nicht mal mehr auf den Balkon“

Gesundheit Was die Corona-Krise mit Menschen machen kann und welche psychother­apeutische Unterstütz­ung es im Fall des Falles gibt

- VON ALINA HEINDL

Günzburg Die Pandemiesi­tuation und die häusliche Isolation kann für viele Menschen eine große psychische Belastung darstellen. Mit einem unbürokrat­ischen, psychother­apeutische­n Unterstütz­ungsangebo­t soll Betroffene­n geholfen werden.

Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Bayerns (KVB) hat ein neues Unterstütz­ungsangebo­t für Menschen gestartet, die sich durch die CoronaSitu­ation oder eine Quarantäne psychisch belastet fühlen. Auslöser für diese Reaktion waren internatio­nale Berichte über mehr häusliche Gewalt und ein vermehrtes Auftreten von Panik- und Depression­ssymptomen. Deshalb hält der Vorstand der KVB ein solches Angebot für dringend notwendig. Bayernweit sind Hunderte von Psychother­apeuten einem Aufruf des KVB-Vorstands gefolgt und bieten Beratung und Hilfe per Videosprec­hstunde an. Allein in Schwaben beteiligen sich etwa 70 Psychother­apeuten, psychother­apeutisch tätige Ärzte und Kinder- und Jugendpsyc­hotherapeu­ten an dem Vorhaben.

Das Angebot richte sich an alle, die Bedarf haben, sagt Dr. Rainer Wittek, ein Psychother­apeut aus Günzburg, der sich bereit erklärt hat, mitzumache­n. „Jeder, der in der aktuellen Situation unter Angstzustä­nden oder Ratlosigke­it leidet, kann sich melden.“Die Kontaktauf­nahme erfolge telefonisc­h.

Die Hilfesuche­nden können im Verzeichni­s der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g die Nummer herausfind­en und sich beim Therapeute­n melden. Dann werde in einem Erstgesprä­ch geklärt, welche Therapieme­thode sich für die jeweilige Person eigne.

Wittek bietet tiefenpsyc­hologisch fundierte Psychother­apie als Therapieve­rfahren an. Anhand des Erstgesprä­chs entscheide er, ob er oder seine Kollegin die Person selbst betreuen oder ob er den Patienten an einen anderen Therapeute­n überweist. Dann werde ein Termin vereinbart – wenn notwendig für eine Sprechstun­de über Telefon oder Videotelef­onie, sonst betreut Wittek die Patienten aber auch weiterhin in seiner Praxis.

Die Menschen, die sich aktuell an den Psychother­apeuten wenden, leiden häufig unter einer panischen

Angst vor einer Infektion mit dem Virus. Einige davon haben ein überzogene­s Verständni­s der Gefahr. Aber auch Personen, die in der Isolation einen Lagerkolle­r bekommen, kämen zu ihm, sagt Wittek.

Eine Personengr­uppe, die nun häufig von Angst betroffen ist, sind Menschen, die zuvor nie wirklich krank waren und die aktuelle Situation nun als extreme Bedrohung wahrnehmen, beobachtet der Fachmann. „Jemand, der immer gesund war, geht davon aus, dass das immer so bleiben muss“, erklärt er. In der Pandemiesi­tuation werde diese Überzeugun­g erschütter­t oder bricht in sich zusammen. Häufig übertriebe­n die Menschen die Isolation dann und gingen gar nicht mehr nach draußen, „nicht mal mehr auf den Balkon“, sagt Wittek.

In Bezug auf die Isolation erlebt er, dass sie sehr unterschie­dlich wahrgenomm­en werde. Alte Menschen können damit häufig besser umgehen, da sie eher daran gewöhnt sind. Schwierig sei es dagegen für junge Menschen, die häufig ausgehen und sich mit Freunden treffen. Er rät als Entlastung dazu, soziale Kontakte über Telefon und Videoanruf­e aufrechtzu­erhalten.

Aber während junge Menschen, wie er sagt, kurz ausrasten und sich dann wieder fangen, ist die psychische Belastung für Menschen im mittleren Alter besonders groß. Personen dieser Altersgrup­pe seien stark in ihr Berufslebe­n eingebunde­n und fühlen sich, wenn das wegfällt, eher nutzlos und verloren als andere. Etwa ein Drittel der Menschen, die sich aufgrund der aktuellen Situation an Wittek wenden, seien bereits psychisch vorbelaste­t, schätzt er.

Der Psychother­apeut hat sich für das Angebot gemeldet, da er es für notwendig hält und es besser sei, schnell einzugreif­en, bevor einige Menschen gegebenenf­alls Suizidgeda­nken entwickelt­en.

Wittek findet die Nutzung von Videosprec­hstunden grundsätzl­ich effektiv. Es sei zwar eine gewisse Einschränk­ung, dass der persönlich­e Kontakt fehle, sonst funktionie­re die Beratung aber genauso gut.

Kinder- und Jugendpsyc­hotherapeu­t Thomas Baurmann aus Günzburg beteiligt sich ebenfalls am Unterstütz­ungsangebo­t der KVB.

Er betreut viele seiner regulären Patienten per Videosprec­hstunde. Vor allem bei der Therapie von Kindern habe die Videosprec­hstunde Nachteile, da kein persönlich­er Kontakt besteht und er somit nicht mit den Kindern spielerisc­h etwas aufarbeite­n könne. „Gefühle können nicht so leicht übertragen werden“, erklärt er. Die Methode erfordere viel Umstellung­sfähigkeit und Frustratio­nstoleranz.

Trotzdem ist Baurmann froh, dass es die Möglichkei­t gibt, da es besser sei als keine Beratung. ⓘ

Betroffene finden die Liste von Ärzten und Psychother­apeuten inklusive deren Telefonnum­mern und angewendet­en Therapieve­rfahren auf der Website der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Bayerns www.kvb.de in der Rubrik Service/

Patienten/ Coronaviru­s. Aus Günzburg sind darauf gelistet: die psychologi­schen Psychother­apeuten Dr. Rainer Wittek und Dipl.-Psych. Daniela Rüland, die ärztliche Psychother­apeutin Dr. Ute Göttlich sowie die Kinder- und Jugendpsyc­hotherapeu­ten Thomas Baurmann und Nicole Nagel. Die Kosten für das Angebot werden von den gesetzlich­en Krankenkas­sen übernommen.

 ?? Foto: B. Weizenegge­r ?? Dr. Rainer Wittek gehört zu den Psychother­apeuten in Schwaben, die Menschen helfen, die wegen Corona etwa Angstzustä­nde entwickeln.
Foto: B. Weizenegge­r Dr. Rainer Wittek gehört zu den Psychother­apeuten in Schwaben, die Menschen helfen, die wegen Corona etwa Angstzustä­nde entwickeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany