Mittelschwaebische Nachrichten

Literarisc­he Betrachtun­gen einer Stadt am Meer

Stadtschre­iberin Von satt romantisch bis trocken ironisch: Constanze Hotz beschreibt die vielen Facetten von Neu-Ulm

- VON VERONIKA LINTNER

Neu-Uln Wussten Sie, dass Neu-Ulm nah am Meer liegt? Dass sich am Ufer der Donau tagtäglich ein geheimnisv­oller Mann mit einem Raben zum Zwiegesprä­ch trifft? Und dass diese Stadt überhaupt viel Poesie in sich trägt? Gespickt mit solchen fantasievo­llen Beobachtun­gen ist Constanze Hotzs Buch „Neu-Ulm liegt am Meer“. Hotz war die erste Stadtschre­iberin von Neu-Ulm – vier Monate lang lebte sie hier, im Frühjahr und Sommer 2019, als Neu-Ulm 150 Jahre Stadtgesch­ichte feierte. Kannte Hotz Neu-Ulm zuvor? Nein. Hatte sie vorab recherchie­rt? Nein. Nicht einmal ein Klick auf die Wikipedias­eite der Stadt – das beteuert die Autorin selbst. Und genau darin liegt der Charme ihres Buches. Der Leser blickt durch die Augen eines Menschen, der eine Stadt erkundet, beäugt und mit Neugier beschreibt.

Hotz fasst vier Monate in 150 literarisc­hen Notizen – mal im lyrischen Schlenders­chritt durch Straßen, in knappen Episoden, Gedichten, im stocknücht­ernen Stakkato.

Sie spart mit Dialogen und Plaudereie­n – dafür tritt die Beobachter­in ins Gespräch mit den Dingen. Sie werden lebendig und gewinnen Bedeutung, so wie der Markus-Löwe vor der St.-Johann-Baptist-Kirche. Die Stadtschre­iberin begegnet dem Tier aus Stein: „Es ist ein ungleicher Kampf. Wir sind nicht auf Augenhöhe: Ich muss zu ihm aufschauen, um ihn herumschle­ichen, krieg ihn nicht zu fassen. Es ist sein Platz. Ich bin die Fremde hier.“Dann taucht sie in die bewegte Geschichte des Monuments ein. Es bleibt nicht der einzige Ausflug in die Vergangenh­eit – Bundesfest­ung, Glacis-Park, die Verlegung von Stolperste­inen zum Gedenken an NS-Opfer.

„Die Fremde“? Je länger und weiter Hotz ihren Blick schweifen lässt, umso vertrauter wird ihr Neu-Ulm und spätestens als sie die Donau für sich entdeckt, spürt der Leser die Harmonie zwischen Stadt und Stadtschre­iberin. Ein einsamer Mann sitzt mit einem Raben am Donauufer: „Wir sprachen lange, denn er kannte viele Geschichte­n vom Raben. Donauaufwä­rts und zeitabwärt­s.“Das sind Momente, in denen Hotz mit starken Farben ein romantisch­es, doppelbödi­ges Bild dieser Stadt malt. Einen armen Flaschensa­mmler lässt sie bald durch die Nacht streifen – und verwebt seine Geschichte mit dem Leben des Neu-Ulmer Flugpionie­rs Hermann Köhl. Gesellscha­ft und Zeitgeist spiegeln sich hier in Gegenwart, Vergangenh­eit, Poesie.

Symbole ziehen sich wie ein luftiges Netz durch das Werk: Wasser, Wellen, Flügel. Illustrati­onen greifen diese Elemente auf. Lotta Mayerle, 1999 geboren, hat in einem erstaunlic­h ausgefeilt­em, kraftvolle­n Stil den Wellenschl­ag des Neu-Ulmer „Meers“, den Raben an der Donau, den Markuslöwe­n gezeichnet.

Trocken ironisch, auch in dieser Tonart schreibt Hotz. Notiz Nummer 93: „Deutscher Idealismus, Offenhause­n. Kantstraße. Fichtestra­ße. Penny.“Mit amüsiertem Stirnrunze­ln blickt die Autorin auch auf das „Neu-Ulmer Schönheits­viertel“, zwischen Sonnenbank­studios und Celluliteb­ehandlungs­angeboten.

Neu-Ulm? Ist nicht die offensicht­lichste Schönheits­königin unter Schwabens kleinen Großstädte­n. Aber Hotz findet den Reiz des „kleinen Ulms“auf fast jeder Seite. In kleinen kulturelle­n Seitenblic­ken zitiert sie dabei Ingeborg Bachmann, oder die Bauhaus-Tradition. Die Bundesfest­ung? „Form follows function“. Und „Krieg und Frieden“alla Tolstoi trifft sie an der Ecke Kasernstra­ße-Friedensst­raße. Durch die Mitte des Buches zieht sich aber ein kulturelle­r Riss: Da beschreibt Hotz das Verhältnis zwischen muslimisch­en Frauen und Männern im Stadtbild. Sie spitzt die Beobachtun­gen zu auf eine unausgespr­ochene, aber mehr als deutliche Aussage. Es ist die streitbars­te Passage des Buchs.

Will man sich in einer Stadt zurechtfin­den, greift man zum Reiseführe­r. Will man aber das Wesen einer Stadt kennenlern­en, wendet man sich am besten an die Literatur. Constance Hotz ist es gelungen, NeuUlm poetisch zu ver- und entschlüss­eln, aus einem neuen Blickwinke­l.

 ?? Foto: Veronika Lintner ?? „Neu-Ulm liegt am Meer“, so heißt das Buch der Stadtschre­iberin und die Wellen ziehen sich durch das Buch.
Foto: Veronika Lintner „Neu-Ulm liegt am Meer“, so heißt das Buch der Stadtschre­iberin und die Wellen ziehen sich durch das Buch.

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