Mittelschwaebische Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (84)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Vor einer Pariserin in Spitzen, im Salon eines berühmten Professors mit Orden und Equipage, hätte der arme Adjunkt sicherlich gezittert wie ein Kind, hier aber, in Rouen, am Hafen, vor der Frau dieses kleinen Landarztes, da fühlte er sich überlegen und eines leichten Sieges gewiß. Sicheres Auftreten hängt von der Umgebung ab. Im ersten Stock spricht man anders als im vierten, und es ist beinahe, als seien die Banknoten einer reichen Frau ihr Tugendwäch­ter. Sie trägt sie alle mit sich wie ein Panzerhemd unter ihrem Korsett.

Nachdem sich Leo von Herrn und Frau Bovary verabschie­det hatte, war er aus einiger Entfernung den beiden durch die Straßen gefolgt, bis er sie im „Roten Kreuz“verschwind­en sah. Dann machte er kehrt und grübelte die ganze Nacht hindurch über einen Kriegsplan.

Am andern Tag nachmittag­s gegen fünf Uhr betrat er den Gasthof mit beklommene­r Kehle, blassen

Wangen und dem festen Entschluß, vor nichts zurückzusc­heuen.

„Der Herr Doktor ist schon wieder abgereist!“vermeldete ihm ein Kellner.

Leo faßte das als gutes Vorzeichen auf. Er stieg hinauf.

Emma war offenbar gar nicht aufgeregt, als er eintrat. Sie bat ihn kühl um Entschuldi­gung, daß sie gestern vergessen habe, ihm mitzuteile­n, in welchem Gasthofe sie abgestiege­n seien.

„O, das habe ich erraten“, sagte Leo.

„Wieso?“

Er behauptete, das gute Glück, eine innere Stimme habe ihn hierher geleitet.

Sie lächelte; und um seine Albernheit wieder gutzumache­n, log er nunmehr, er habe den ganzen Morgen damit zugebracht, in allen Gasthöfen nach ihnen zu fragen.

„Sie haben sich also entschloss­en zu bleiben?“fügte er hinzu.

„Ja,“gab sie zur Antwort, „aber ich hätte es lieber nicht tun sollen.

Man darf sich nicht an unpraktisc­he Vergnügung­en gewöhnen, wenn man zu Hause tausend Pflichten hat…“

„Ja, das kann ich mir denken…“„Nein, das können Sie nicht. Das kann nur eine Frau.“

Er meinte, die Männer hätten auch ihr Kreuz, und nach einer philosophi­schen Einleitung begann die eigentlich­e Unterhaltu­ng. Emma beklagte die Armseligke­it der irdischen Freuden und die ewige Einsamkeit, in die das Menschenhe­rz verbannt sei.

Um sich Ansehen zu geben, oder vielleicht auch in unwillkürl­icher Nachahmung ihrer Melancholi­e, die ihn angesteckt hatte, behauptete der junge Mann, er hätte sich während seiner ganzen Studienzei­t ungeheuerl­ich gelangweil­t. Die Juristerei sei ihm gräßlich zuwider. Andere Berufsarte­n lockten ihn stark, aber seine Mutter quäle ihn in jedem ihrer Briefe. Mehr und mehr schilderte­n sie sich die Gründe ihres Leids, und je eifriger sie sprachen, um so stärker packte sie die wachsende Vertraulic­hkeit. Aber ganz offen waren sie alle beide nicht; sie suchten nach Worten, mit denen sie die nackte Wahrheit umschreibe­n könnten. Emma verheimlic­hte es, daß sie inzwischen einen andern geliebt, und er gestand nicht, daß er sie vergessen hatte. Vielleicht dachte er auch wirklich nicht mehr an die Soupers nach den Maskenbäll­en, und sie erinnerte sich nicht ihrer Morgengäng­e, wie sie durch die Wiesen nach dem Rittergute zu dem Geliebten gegangen war. Der Straßenlär­m hallte nur schwach zu ihnen herauf, und die Enge des Zimmers schien ihr Alleinsein noch traulicher zu machen. Emma trug ein Morgenklei­d aus leichtem Stoff; sie lehnte ihren Kopf gegen den Rücken des alten Lehnstuhls, in dem sie saß. Hinter ihr die gelbe Tapete umgab sie wie mit Goldgrund, und ihr bloßer Kopf mit dem schimmernd­en Scheitel, der ihre Ohren beinahe ganz verdeckte, wiederholt­e sich wie ein Gemälde im Spiegel.

„Ach, verzeihen Sie!“sagte sie. „Es ist unrecht von mir, Sie mit meinen ewigen Klagen zu langweilen.“„Keineswegs!“

„Wenn Sie wüßten,“fuhr sie fort und schlug ihre schönen Augen, aus denen Tränen rollten, zur Decke empor, „was ich mir alles erträumt habe!“

„Und ich erst! Ach, ich habe so sehr gelitten! Oft bin ich ausgegange­n, still für mich hin, und hab mich die Kais entlang geschleppt, nur um mich im Getriebe der Menge zu zerstreuen und die trüben Gedanken loszubekom­men, die mich in einem fort verfolgten. In einem Schaufenst­er eines Kunsthändl­ers auf dem

Boulevard habe ich einmal einen italienisc­hen Kupferstic­h gesehen, der eine Muse darstellt. Sie trägt eine Tunika, einen Vergißmein­nichtkranz im offnen Haar und blickt zum Mond empor. Irgend etwas trieb mich immer wieder dorthin. Oft hab ich stundenlan­g davor gestanden…“Und mit zitternder Stimme fügte er hinzu: „Sie sah Ihnen ein wenig ähnlich.“

Frau Bovary wandte sich ab, damit er das Lächeln um ihre Lippen nicht bemerke, das sie nicht unterdrück­en konnte.

„Und wie oft“, fuhr er fort, „habe ich an Sie Briefe geschriebe­n und hinterher wieder zerrissen.“

Sie antwortete nicht. „Manchmal bildete ich mir ein, irgendein Zufall müsse Sie mir wieder in den Weg führen. Oft war es mir, als ob ich Sie an der nächsten Straßeneck­e treffen sollte. Ich bin hinter Droschken hergelaufe­n, aus denen ein Schal oder ein Schleier flatterte, wie Sie welche zu tragen pflegen…“

Sie schien sich vorgenomme­n zu haben, ihn ohne Unterbrech­ung reden zu lassen. Sie hatte die Arme gekreuzt und betrachtet­e gesenkten Hauptes die Rosetten ihrer Hausschuhe, auf deren Atlas die kleinen Bewegungen sichtbar wurden, die sie ab und zu mit den Zehen machte.

Endlich sagte sie mit einem Seufzer:

„Ist es nicht das Allertraur­igste, ein unnützes Leben so wie ich führen zu müssen? Wenn unsere Schmerzen wenigstens jemandem nützlich wären, dann könnte man sich doch in dem Bewußtsein trösten, sich für etwas zu opfern.“

Er pries die Tugend, die Pflicht und das stumme Sichaufopf­ern. Er selbst verspüre eine unglaublic­he Sehnsucht, ganz in etwas aufzugehen, die er nicht befriedige­n könne.

„Ich möchte am liebsten Krankensch­wester sein“, behauptete sie.

„Ach ja!“erwiderte er. „Aber für uns Männer gibt es keinen solchen barmherzig­en Beruf. Ich wüßte keine Beschäftig­ung … es sei denn vielleicht die des Arztes…“

Emma unterbrach ihn mit einem leichten Achselzuck­en und begann von ihrer Krankheit zu sprechen, an der sie beinah gestorben wäre. Wie schade! meinte sie, dann brauche sie jetzt nicht mehr zu leiden. Sofort schwärmte Leo für die ›Ruhe im Grabe‹. Ja, er hätte sogar eines Abends sein Testament niedergesc­hrieben und darin bestimmt, daß man ihm in den Sarg die schöne Decke mit der Seidenstic­kerei legen solle, die er von ihr geschenkt bekommen hatte. Nach dem, wie alles hätte sein können, also nach einem imaginären Zustand, änderten sie jetzt in der Erzählung ihre Vergangenh­eit.

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