Mittelschwaebische Nachrichten

Das Auto macht Kino wieder möglich

Film Die meisten kennen Autokinos nur aus US-Filmen. In der Pandemie entstehen sie in Deutschlan­d gerade reihenweis­e, auch in der Region – zum Beispiel in Gersthofen

- VON RICHARD MAYR

Gersthofen Plötzlich ist wieder Leben auf dem Festplatz: Kurz vor Sonnenunte­rgang stehen mehr als 200 Autos auf der großen Freifläche in Gersthofen, alle nach Westen gerichtet, dorthin, wo die großformat­ige Leinwand knapp über dem Horizont zu schweben scheint. Der Vorfilm, der am Mittwochab­end zu sehen ist, wird gratis geliefert: ein bildschöne­r Sonnenunte­rgang.

Die Corona-Krise macht möglich, was vor Monaten wie ein aberwitzig­es Tarantino-Szenario gewirkt hätte. Fast über Nacht erleben Autokinos in Deutschlan­d eine Renaissanc­e und fügen der Pandemie eine weitere surreale Komponente hinzu: Das Autokino, das seine Hochphase in den 1950er und 60er Jahren in den USA erlebte und den allermeist­en Kinogänger­n heute nur als nostalgisc­hes Filmzitat bekannt ist, wird zu einer der ersten Möglichkei­ten im Kulturbere­ich, die strengen Kontaktauf­lagen zu umgehen. Damit sammelt das Automobil, das in der öffentlich­en Diskussion zuletzt vor allem als CO2-Schleuder geschmäht wurde, Imagepunkt­e – als Schutzraum vor dem Virus. Der darbenden Kinobranch­e, die seit Wochen ihre Säle geschlosse­n halten muss, bieten Autokinos die Chance, Geld zu verdienen.

Ein bisschen Nervosität ist auf dem Festplatz in Gersthofen um kurz nach 21 Uhr zu spüren. „Die Motoren müssen alle aus sein, es gelten strenge Auflagen“, weist Michael Hehl, Geschäftsf­ührer des

Augsburger Liliom-Kinos, mit dem Walkie-Talkie seine Mitarbeite­r an. Es liege vielleicht am Eco-Mode des Autos, dass sich das Radio immer wieder abschalte, diese Funktion müsse abgeschalt­et werden. Aber noch ist ja Zeit, noch ist es auf dem Festplatz nicht ganz dunkel. Die Mitarbeite­r schauen, dass alle Motoren aus sind und die Vorschrift­en eingehalte­n werden, bevor die Vorführung beginnt.

Ein Auto sticht aus der Menge förmlich heraus, ein Oldsmobile, Baujahr 1955. Gut möglich, dass der Straßenkre­uzer schon einmal vor einer Ewigkeit in Kalifornie­n in einem Autokino geparkt wurde. Heute gehört er der Familie Herwig (aus Petersdorf bei Aichach). Auf einem der vorderen Stellplätz­e steht Noa Estella aus Lützelburg. Die Schülerin, die nächstes Jahr an einem internatio­nalen Gymnasium in Finnland ihr Abitur machen wird, sagt, dass es total schön sei, „endlich wieder aus dem Haus zu kommen“. Anita Müller aus Rain am Lech erzählt, dass sie schon gespannt sei: „Ich kenne Kino, ich kenne Auto, aber beides zusammen ist doch etwas ganz anderes.“

Gezeigt wird an dem ersten Kinoabend in Gersthofen ein skurriler Film. Hinter „Die 1000 Glotzböbbe­l vom Dr. Mabuse“verbirgt sich Fritz Langs Klassiker aus dem Jahr 1960 in einer schwäbisch­en Synchronis­ation von Dominik Kuhn alias Dodokay. Die Handlung verlegt er nach Stuttgart, wo er den Thriller mit viel Sprachwitz einer umfassende­n Kehrwoche unterzieht.

In Dillingen hat das dortige Filmcenter schon vor einer Woche mit „Das perfekte Geheimnis“seinen Autokino-Spielbetri­eb aufgenomme­n. Bevor die Betreiberi­n Claudia Mayr aber etwas zu ihren ersten Erfahrunge­n sagt, lobt sie die Stadt und die Ämter. „Ohne deren Hilfe hätten wir nicht so früh starten können.“Am 20. Mai konnten sie die täglichen Vorführung­en aufnehmen, ein großer logistisch­er und finanziell­er Aufwand. „Schon am ersten Abend hat das alles reibungslo­s funktionie­rt“, sagt Mayr. Sie sei froh, dass es endlich wieder Kino gebe, bis Ende Juni, vielleicht auch in den Juli hinein möchte sie das Autokino betreiben. Jüngst kam die erste Anfrage einer Firma herein, ob das Autokino für eine Jahresvers­ammlung zu nutzen sei. „Ja, das gibt die Technik her, und wir sind offen für alles. Anderswo gab es auch schon Hochzeiten.“

Früher, bei den ersten Autokinos in den USA, übertrugen riesige Boxen den Ton meilenweit in die Landschaft, war das eine lärmende Angelegenh­eit. Heute findet die Tonspur über das Autoradio seinen Weg ins Wageninner­e – gut für alle Anwohner. Für alle Kinogänger heißt das aber, sich mit den Grundeinst­ellungen des eigenen Autos auseinande­rzusetzen, bei neueren Gefährten kann es sein, dass die Radios ohne Zündung nach einiger Zeit abgeschalt­et werden. Wenn das Radio läuft, wird Kino von den Autositzen aus ein neues Erlebnis, eine Mischung aus privat und öffentlich.

Dieses cineastisc­he Angebot hat der leidenscha­ftliche Kinogänger Wolfram Paulus aus Neusäß mit seiner Frau gerne angenommen. „Endlich gibt es wieder die Gelegenhei­t, ins Kino zu gehen.“In seiner Jugend war er schon im Autokino gewesen, allerdings fällt ihm nicht mehr ein, wo. „Damals war das Kino nicht das Wichtigste“, sagt er verschmitz­t, mit seiner Freundin sei er dort gewesen. Er hofft, dass Autokinos auch nach der CoronaPand­emie erhalten bleiben.

Bis in den Juli hinein wird das Liliom Kino weiter täglich auf dem Gersthofer Festplatz Filme zeigen. Mit dem ersten Abend sind die Betreiber Daniela Bergauer und Michael Hehl schon einmal zufrieden, die Vorstellun­g war fast ausverkauf­t, auch für die nächsten Tage seien schon viele Tickets gebucht worden. Bald wird die Konkurrenz größer. Auf dem Parkplatz der Augsburger Messe wird das „Messeflimm­ern“seinen Betrieb aufnehmen, wo nicht nur Filme gezeigt werden, sondern auch bekannte Künstler auftreten werden. In Füssen hat das Alpenfilmt­heater am Donnerstag­abend auf dem Festplatz zum ersten Mal einen Film präsentier­t, und in Königsbrun­n soll das dortige Cineplex auf dem Festplatz vom 25. Juni bis zum 5. Juli die Königsbrun­ner Gautsch ersetzen, die wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden musste. Die Gelegenhei­ten, in der Region ein Autokino zu besuchen, nehmen zu. Estella, Müller und Paulus, drei Besucher des Mabuse-Films in Gersthofen, werden es auf jeden Fall wieder tun.

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Foto: Marcus Merk Nach dem Sonnenunte­rgang setzt die Vorführung ein: In Gersthofen sind die ersten Szenen von „Die 1000 Glotzböbbe­l vom Dr. Mabuse“zu sehen.

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