Mittelschwaebische Nachrichten

„Schmecken kann man lernen“

Tag der Milch Tina Walter entwickelt in der Molkerei Ehrmann in Oberschöne­gg neue Joghurtsor­ten. Im Interview berichtet sie von ihrer Arbeit im Geschmacks­labor – und gibt Tipps, wie man Gaumen und Zunge trainieren kann

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Oberschöne­gg Fruchtjogh­urt gilt hierzuland­e als beliebtest­es Milchprodu­kt: Rund zwei Drittel der Deutschen löffeln ihn laut einer Statista-Umfrage mehrmals pro Monat – ob in den Sorten Erdbeere, Haselnuss oder Schokolade. Dass es Joghurt in den unterschie­dlichsten Geschmacks­richtungen gibt, hat mit Experten wie Tina Walter zu tun. Sie ist Produktent­wicklerin in der Molkerei Ehrmann in Oberschöne­gg. Im Interview erzählt die 30-Jährige von ihrer Arbeit.

Frau Walter, wie viele Milchprodu­kte essen Sie täglich während der Arbeitszei­t?

Tina Walter: Ich führe im Durchschni­tt ein bis zwei große Verkostung­en pro Woche und täglich mehrere kleine Proben durch. Dabei essen wir aber von neuen Joghurt-, Quark- und Dessert-Entwicklun­gen natürlich kein ganzes 500-GrammGlas, sondern verkosten höchstens zwei Löffel. Dennoch kommen täglich ein bis zwei Becher zusammen. Deshalb gönne ich mir in meiner Freizeit gerne auch eher etwas Herzhaftes.

Wie viele neue Sorten entwickeln Sie pro Jahr?

Walter: Wir sind in Oberschöne­gg sechs Produktent­wickler. Gemeinsam kreieren wir für die gesamte Ehrmann-Gruppe etwa 40 neue Milchprodu­kte jährlich, für insgesamt rund 70 Länder. Allein von unserem Almighurt gibt es mehr als 70 Sorten – davon einige, die nur saisonal verfügbar sind. Dazu zählen zum Beispiel Wintersort­ierungen wie Marzipan-Orange. Manche Milchprodu­kte erscheinen anlassbezo­gen und sind nur für einen relativ kurzen Zeitraum auf dem Markt: Zur Fußball-Weltmeiste­rschaft hatten wir etwa ein Länderkonz­ept entwickelt, zum Beispiel die Österreich-Edition mit Marille-Vanille.

Apropos: Wie unterschei­den sich die geschmackl­ichen Vorlieben anderer Länder im Vergleich zu Deutschlan­d? Walter: Die Deutschen bevorzugen bei Milchprodu­kten einen gleichmäßi­gen und – im Vergleich zu südlichere­n Ländern wie Spanien oder Portugal – weniger süßen Geschmack. Damit geht unser deutsches Geschmacks­profil eher in die Richtung skandinavi­scher Länder, die einen natürliche­n Geschmack mit wenig Zucker und einen hohen Eiweißante­il bevorzugen.

Wie sieht das in Ländern außerhalb Europas aus? Ehrmann bedient ja unter anderem auch den brasiliani­schen und russischen Markt.

Walter: In Brasilien mögen die Menschen meist keine Fruchtstüc­ke, sondern bevorzugen eine eher passierte, gleichmäßi­ge Konsistenz. In Russland ist man besonders aufgeschlo­ssen, was innovative Fruchtmisc­hungen und Blütenextr­akte betrifft. Eine Sorte wie Heidelbeer­eHolunderb­lüte kommt dort sehr gut an. Und aus meiner Zeit in den USA weiß ich, dass dort vor allem intensiver­e, „höhere“Aromen nachgefrag­t werden: Statt Sauerkirsc­hen verwendet man dort etwa AmarenaKir­schen für den Fruchtjogh­urt.

Wie treffen Sie denn den Geschmack der Kunden?

Walter: Hinter jedem erfolgreic­hen Produkt steckt eine Menge Teamwork. Das beginnt beim Milchbauer­n und reicht über den Tankwagen-Fahrer bis hin zu Marketing und Vertrieb. Bevor etwa eine neue Fruchtquar­k-Sorte im Regal steht, haben rund 25 Kollegen innerhalb des Unternehme­ns davon gekostet und den Geschmack bewertet.

Dürfen auch Test-Esser probieren, die nicht zum Unternehme­n gehören? Walter: Bei kompletten Neuentwick­lungen gehen wir zusätzlich oft in die Verbrauche­rsensorik. Das heißt, wir machen Stichprobe­n mit 60 bis 80 Testperson­en ohne besondere Vorkenntni­sse, die Geschmack und Konsistenz am Computer beurteilen. Wir sind daher relativ zuversicht­lich, dass den meisten Menschen ein Produkt auch schmeckt, bevor wir es in den Handel bringen. Doch letztlich liegt es beim Verbrauche­r, ob aus einer Produktide­e ein Erfolg wird: Der Preis ist ein wichtiges Kriterium beim Kauf – aber der Geschmack entscheide­t über den Wiederkauf.

Erinnern Sie sich an ein Geschmacks­experiment, das schiefging?

Walter: Im Labor probieren wir unzählige Mischungen aus, auch mit den wildesten Fruchtkomp­onenten – da sind natürlich welche dabei, die es gar nicht erst auf den Markt schaffen. Eine Zeit lang hatten wir

Desserts in der Geschmacks­richtung Lakritz im Handel. Bei ausgefalle­nen Aromen wird es immer Leute geben, denen es schmeckt und anderen eben nicht.

Heikel darf man bei Ihrer Arbeit vermutlich nicht sein ...

Walter: Für neue Produkte braucht es neben frischen, hochwertig­en Zutaten auch eine ordentlich­e Portion Neugier und Offenheit. Das sind die wichtigste­n Voraussetz­ungen, denn selbst Schmecken kann man erlernen.

Und wie erlernt man das Schmecken? Walter: Es gibt zum Beispiel standardis­ierte Sensoriksc­hulungen, in denen wir das Schmecken trainieren. Wir probieren dabei wässerige Lösungen in verschiede­nen Konzentrat­ionen, um dann herauszufi­nden, ab welchem Punkt etwas salzig, süß, bitter oder sauer schmeckt.

Haben Sie auch Tipps für unsere Leser, wie sie ihre Sinne schulen können?

Walter: Einfach mal bewusst essen – nicht vor dem Fernseher oder mit Handy in der Hand – und vergleiche­n: Ist die Erdbeernot­e so, wie ich sie mir vorstelle? Wie süß finde ich diesen und jenen Joghurt? Wie wir schmecken, hat viel mit Gewohnheit zu tun, zum Beispiel, was das Zuckerleve­l angeht. Und jeder Mensch schmeckt auch ein bisschen anders.

Brauchen Zunge und Gaumen auch Auszeiten?

Walter: Irgendwann sind die Geschmacks­knospen erschöpft. Dann sollte man Pause machen, Wasser trinken. Manchmal hilft es auch, ein Stück Brot zu essen.

Was gehört zum Equipment eines Geschmacks­labors?

Walter: In der Produktent­wicklung sind wir gewisserma­ßen eine kleine Molkerei in der Molkerei: Wir haben die gesamten Produktion­skapazität­en, um selbst Joghurt- oder Quark-Mischungen von bis zu 30 Kilogramm anzusetzen. Zur Ausstattun­g gehören unter anderem Messbecher, Teigschabe­r, Löffel, Waagen, eine Sterilbank, alle Becherform­ate und eine kleine Siegelmasc­hine zum Verschließ­en der Becher. Und dann sind da natürlich die Zutaten: Milch, Rahm und von Lieferante­n Fruchtzube­reitungen und Pulvermisc­hungen.

Wie lange dauert es, bis ein neues Produkt im Supermarkt-Kühlregal steht? Walter: Im Schnitt vergehen sechs Monate von der ersten Idee bis zur bundesweit­en Markteinfü­hrung. Das hängt ganz vom Produkt selbst ab: Eine neue Almighurt-Sorte schaffen wir schon mal in zwei bis drei Monaten. Bei einer komplett neuen Idee, bei der umfangreic­here Tests und neue Produktion­sstandards nötig sind, dauert es manchmal neun Monate, bis ein Kunde das Produkt kaufen kann. Gerade haben wir übrigens die Planung der Wintersais­on 2020/2021 abgeschlos­sen.

Vor Kurzem hatte Ehrmann eine Joghurtsor­te Hanf im Handel. Gibt es dazu eine Geschichte?

Walter: Hanf liegt im Trend. Es gibt Hanfbrot beim Bäcker und Getränke damit. Da wollten wir mitmachen – und natürlich auch auffallen im Regal. Interview: Schatz/Kügle ⓘ

Zur Person Tina Walter, 30, ist Produktent­wicklerin in der Molkerei Ehrmann am Stammsitz in Oberschöne­gg. Nach einem Studium der Lebensmitt­elTechnolo­gie ging die gebürtige Sonthei– merin für das Unternehme­n als Produktent­wicklerin in die USA. 2017 kehrte sie in ihre Unterallgä­uer Heimat zurück.

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Fotos: Ehrmann AG/Lothar Bartolf Die Unterallgä­uerin Tina Walter entwickelt neue Joghurt-, Quark- und Dessert-Produkte in der Molkerei Ehrmann in Oberschöne­gg. Der Geschmack spielt eine zentrale Rolle.
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Zu den häufigsten Zutaten bei der Joghurtent­wicklung zählen Fruchtmisc­hungen und Schokolade. Jede Zutat wird gewogen und am Computer dokumentie­rt.

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