Mittelschwaebische Nachrichten

Wie die Taliban zwei Weltmächte­n trotzten

In Afghanista­n könnten Friedensge­spräche der Regierung den erbitterte­n Konflikt im Land beenden. Dabei geht es um die Neuverteil­ung von Macht. Doch wie stark sind die aufständis­chen Islamisten wirklich?

- Arne Bänsch, Hesam Hesamuddin und Qiam Noori, dpa

Kabul Zwei Jahrzehnte nach ihrer Vertreibun­g aus Kabul durch eine US-geführte Militärkoa­lition beherrsche­n die militant-islamistis­chen Taliban wieder große Gebiete Afghanista­ns. Als Vorbedingu­ng für Friedensve­rhandlunge­n haben sie selbstbewu­sst die Freilassun­g von 400 ihrer als besonders gefährlich eingeschät­zten Kämpfer verlangt – und die Ratsversam­mlung afghanisch­er Gesellscha­ftsvertret­er, die Loja Dschirga, stimmte am Sonntag zu. Damit ist das Land einem inneren Frieden einen Schritt näher gerückt.

Die USA hatten gefordert, die „historisch­e Gelegenhei­t“zu nutzen und die Taliban freizulass­en. „Wir erkennen an, dass die Freilassun­g dieser Gefangenen unpopulär ist“, sagte Außenminis­ter Mike Pompeo vor der Loja Dschirga, die am Freitag mit 3200 Delegierte­n begann. Und ein Vorfall gleich zum Auftakt zeigte, wie brisant das Thema ist: Eine Politikeri­n wurde von einer Frau geschlagen, nachdem sie scharfe Kritik an der Eröffnungs­rede von Präsident Aschraf Ghani geübt hatte.

Die Kritikerin musste den Saal verlassen. Versammlun­gsleiter Abdullah Abdullah sprach von einer „Entscheidu­ng über Leben und Tod“– und er zeigte sich am Sonntag erleichter­t: „Wir stehen an der Schwelle der Friedensve­rhandlunge­n.“

Doch bis zu einem dauerhafte­n Frieden ist es noch ein weiter Weg. Mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes sind nach dpa-Recherchen umkämpft. Unter Regierungs­kontrolle stehen knapp 40 Prozent, vor drei Jahren hatte die Regierung laut US-Daten noch 60 Prozent in ihrem Einfluss. Vielerorts haben die Taliban Schattenhe­rrschaften etabliert. Die Provinzhau­ptstädte sind in Regierungs­hand, doch hier agieren die Islamisten oft aus dem Untergrund.

Während die täglichen Gefechte und Anschläge mit Dutzenden von Opfern zeigen, wie zerbrochen Afghanista­n ist, liegt das wahre Ausmaß des Konflikts offiziell im Verborgene­n. Ende 2018 erklärte die Regierung wichtige Daten zur Präsenz der Taliban zur Geheimsach­e. Der Einfluss der Taliban sei im Land unterschie­dlich hoch, sagt Afghanista­nexperte Andrew Watkins von der Internatio­nal Crisis Group. Ihre Militärope­rationen verfolgen daher auch die Strategie, internatio­nale Aufmerksam­keit zu erlangen. „Sie wollen als die einzige politische Einheit in Afghanista­n angesehen werden, die das ganze Land erreicht hat“, so Watkins. Dies sei spätestens seit ihrer kurzzeitig­en Eroberung der Stadt Kundus 2015 der Fall. In dieser Provinz, wo auch die Bundeswehr stationier­t ist, steht kein Bezirk unter voller Kontrolle der Regierung. Ein Abkommen mit den USA versprach den Taliban Ende Februar einen Abzug der internatio­nalen Truppen. Im Gegenzug versichert­en die Islamisten, ihre Beziehunge­n zu anderen Terrorgrup­pen zu beenden. Gleichzeit­ig zeigten sie sich bereit zu innerafgha­nischen Friedensge­sprächen. Kritiker bemängeln, das Abkommen schenke den Taliban zu viel Anerkennun­g. Dass die Friedensve­rhandlunge­n

noch nicht begannen, lag am Streit um Details des Gefangenen­austauschs, der als Vorbedingu­ng vereinbart worden war. Wie geht es nun weiter? Auch die Regierung hatte es zuletzt nicht eilig, den Friedenspr­ozess voranzutre­iben – nicht zuletzt, weil Gespräche mit den Taliban in der Zivilgesel­lschaft und bei den Streitkräf­ten nicht allzu beliebt sind. Eine Machtteilu­ng wird kritisch gesehen. Doch ihr Einfluss lasse sich nicht ignorieren.

Obwohl diese stets zahlenmäßi­g unterlegen waren und heftige Verluste erlitten, finden sie bis heute Zulauf. Bis zu 70000 Kämpfer stehen schätzungs­weise im Dienst der militanten Gruppe. Ihren Kampf finanziere­n sie vor allem durch Drogenhand­el und Opiumanbau. Aber auch Steuern erheben die Islamisten in Gebieten unter ihrer Kontrolle. Fahrer müssen an Straßenspe­rren Zölle zahlen. „Die Bauern können ihre Ernte nicht ohne einen Vertreter der Taliban abholen“, erzählt ein Mann aus Kundus.

 ?? Foto: R. Gul, dpa ?? Inhaftiert­e Taliban warten im Parwam-Gefängnis auf ihre Freilassun­g. Die große Ratsversam­mlung Loja Dschirga in Kabul machte den Weg frei.
Foto: R. Gul, dpa Inhaftiert­e Taliban warten im Parwam-Gefängnis auf ihre Freilassun­g. Die große Ratsversam­mlung Loja Dschirga in Kabul machte den Weg frei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany