Mittelschwaebische Nachrichten

„Es gibt kein Grundrecht auf Rücksichts­losigkeit“

Die Polizei steht in der Kritik. Wie stark sind die rechtsextr­emen Tendenzen in ihren Reihen? Und wird in Bayern das Demonstrat­ionsrecht verschärft? Ein Gespräch mit Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU)

- Joachim Herrmann, 63, Mitglied der CSU, ist Bayerns Minister des Inneren, für Sport und Integratio­n.

Herr Herrmann, die Polizei ist – nicht zuletzt wegen offenkundi­g rassistisc­her Übergriffe in den USA – auch bei uns in die Kritik geraten. Laut einer Umfrage sehen 31 Prozent der Deutschen ein Rassismus-Problem bei der Polizei. Interessan­terweise sagen aber auch 82 Prozent der Befragten, sie hätten großes Vertrauen in unsere Polizei. Wie geht das aus Sicht des bayerische­n Innenminis­ters zusammen?

Joachim Herrmann: Die Werte aus dieser Umfrage decken sich mit den Ergebnisse­n anderer Umfragen und auch mit unserer täglichen Erfahrung. Die allermeist­en Menschen haben sehr großes Vertrauen in die Polizei – zu Recht! Insofern ist die Diskussion, die da aus den USA zu uns herüberges­chwappt ist, schlicht unsinnig. Die Situation dort ist mit der Situation hier überhaupt nicht zu vergleiche­n.

Was unterschei­det unsere Polizeibea­mten von den Cops in den USA? Herrmann: Das beginnt schon bei der Ausbildung. In den USA gibt es manche Polizisten, die nur sechs oder acht Wochen ausgebilde­t werden. Bei uns dauert das mindestens zweieinhal­b Jahre. Ein Polizeibea­mter in Bayern muss nicht nur körperlich fit sein und mit der Schusswaff­e umgehen können. Er muss vor allem lernen, heikle Situatione­n im Gespräch zu entschärfe­n und zu deeskalier­en.

Polizeigew­alt aber gibt es auch bei uns. Herrmann: Selbstvers­tändlich kann auch in Deutschlan­d ein Beamter dazu gezwungen sein, von der Schusswaff­e Gebrauch zu machen. Da geht es regelmäßig um lebensgefä­hrliche Notwehrsit­uationen, das kann man doch nicht als Polizeigew­alt bezeichnen. Und schon ein kurzer Blick auf die Zahlen zeigt, wo der Unterschie­d liegt. In Deutschlan­d sind im Durchschni­tt der letzten zehn Jahre etwa zehn bis 15 Menschen pro Jahr bei Polizeiein­sätzen erschossen worden, in den USA liegt diese Zahl bei rund 1000. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die USA rund viermal so viele Einwohner haben wie Deutschlan­d, ist diese Differenz gewaltig. Und wenn man dann noch weiß, dass unter den Todesopfer­n in den USA überpropor­tional viele Menschen mit dunkler Hautfarbe sind, dann wird klar, dass die Situation dort eine völlig andere ist. Parallelen mit Deutschlan­d zu ziehen, ist grober Unfug.

Dass unsere Polizei völlig frei ist von extremisti­schen Tendenzen, können aber auch Sie vermutlich nicht behaupten. Es gibt immer wieder Einzelfäll­e.

Herrmann: Einzelfäll­e oder schwarze

Schafe gibt es immer wieder, in jedem Beruf und auch im Öffentlich­en Dienst. In Frankfurt steht aktuell ein Staatsanwa­lt unter Korruption­sverdacht und es hat auch schon Lehrer gegeben, die Kinder missbrauch­t haben. Das sind völlig inakzeptab­le Einzelfäll­e. Es ist aber keine Massenersc­heinung, auch der Rechtsextr­emismus nicht.

In Bayern mussten Polizisten aus dem Dienst entfernt werden, weil sie Anhänger der Reichsbürg­er waren. Herrmann: Ja. Wir gehen hier sehr konsequent vor, erst kürzlich hat uns das Verwaltung­sgericht München in einem solchen Fall wieder recht gegeben. Wer hinter der Reichsbürg­er-Ideologie steht, hat bei der bayerische­n Polizei nichts zu suchen. Das gilt genauso für Leute mit rassistisc­her, antisemiti­scher oder anderer extremisti­scher Gesinnung.

Wie gehen Sie vor, wenn ein Beamter in Extremismu­sverdacht gerät? Herrmann: Unsere Vorsorge beginnt schon viel früher, nämlich bei der Einstellun­g in den Öffentlich­en Dienst. Wir fragen Polizeianw­ärter grundsätzl­ich, ob sie einer Anfrage beim Verfassung­sschutz zustimmen, wenn Zweifel an ihrer Verfassung­streue bestehen. Wer nicht zustimmt, wird gar nicht erst eingestell­t. Während der Ausbildung setzt sich das fort. Die innere Einstellun­g wird kontinuier­lich hinterfrag­t. Und wenn später ein Verdacht auftreten sollte, erwarte ich von jedem Vorgesetzt­en, sofort tätig zu werden und das restlos aufzukläre­n. Wenn ein Verdacht auf strafbares Verhalten besteht, ist dafür eine spezielle Einheit beim Landeskrim­inalamt zuständig. Das habe ich neu eingeführt. Bei möglichen Verfehlung­en von Beamten sollen nicht Kollegen aus der eigenen Dienststel­le ermitteln.

Wie viele derartige Verfahren gibt es? Herrmann: Es gab immer wieder Disziplina­rverfahren gegen Polizeibea­mte, bei denen es jedenfalls auch um extremisti­sche Sachverhal­te ging. In den letzten Jahren gab es Verfahren gegen rund 30 Beamte, darunter die bekannten Chatgruppe­nfälle beim Unterstütz­ungskomman­do in München.

Die Frage, ob es „strukturel­len Rassismus“bei der Polizei gibt, ist umstritten. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) lehnt eine Untersuchu­ng dieser Frage ab. Der niedersäch­sische Innenminis­ter Boris Pistorius (SPD) sagt, so eine Studie sei nichts, wovor man Angst haben müsse. Wie sehen Sie das?

Herrmann:

Auch ich habe vor einer solchen Studie keine Angst. Ich sehe aber nicht, was so eine Studie bringen soll. Ein Beamter mit einer antisemiti­schen Einstellun­g wird bei einer Befragung nicht öffentlich erklären, dass er schon immer ein Antisemit ist. Das ist weltfremd. Entscheide­nd ist vielmehr, dass in Verdachtsf­ällen sofort gehandelt wird – so wie im Fall des Unterstütz­ungskomman­dos in München. Als dort auf Handys antisemiti­sche Inhalte auftauchte­n, wurden nicht nur Disziplina­rund Strafverfa­hren eingeleite­t. Wir haben die Leute auch unverzügli­ch versetzt, ohne den Ausgang der Verfahren abzuwarten. Wer sich so daneben benimmt, fliegt sofort aus einer solchen Einheit.

Nun sind es nicht nur die üblichen Verdächtig­en, die der Polizei strukturel­len Rassismus vorwerfen. Auch SPDChefin Saskia Esken übt Kritik. Herrmann: Frau Esken zeigt seit ihrem Amtsantrit­t als SPD-Vorsitzend­e, dass sie mit der deutschen Polizei insgesamt auf Kriegsfuß steht. Von ihr kommt jede zweite Woche ein böswillige­r Angriff auf die Polizei. Dieses zur Schau getragene Misstrauen gegen die Polizei ist völlig daneben. Ich habe auch den Eindruck, dass Frau Esken von der Arbeit der Polizei keine Ahnung hat.

Ist es nicht schon „strukturel­ler Rassismus“, wenn nach der Krawallnac­ht in Stuttgart bei Tatverdäch­tigen mit deutschem Pass „Stammbaumf­orschung“betrieben wird?

Herrmann: Der Begriff „Stammbaumf­orschung“war mir bisher nicht geläufig. Auch der Stuttgarte­r Polizeiprä­sident hat darauf hingewiese­n, dass der Begriff nicht von ihm stammt. Bei uns findet so etwas auf jeden Fall nicht statt. Es sind allerdings Fälle denkbar, bei denen es aus kriminolog­ischer Sicht relevant ist, den berufliche­n, familiären oder sonstigen Hintergrun­d von Tatverdäch­tigen zu erforschen. Und wenn ein Migrations­hintergrun­d im konkreten Fall relevant ist, darf man ihn nicht unter den Teppich kehren.

Ihre Beamten agieren aktuell in einer schwierige­n politische­n Gemengelag­e. Neben dem Rassismus-Vorwurf gibt es auch immer wieder Kritik an der Durchsetzu­ng der Corona-Schutzbest­immungen. Welche Erfahrunge­n haben Sie damit in Bayern gemacht? Herrmann: Mit Corona haben wir es seit März mit einer Situation zu tun, wie es sie in unserem Land noch nie gegeben hat. Das betrifft die Bürger und ihre Freiheitsr­echte. Das betrifft auch die Einsatzbed­ingungen der Polizei. Umfragen und auch unsere täglichen Wahrnehmun­gen bestätigen, dass die allermeist­en Bürger die Regeln beachten und auch wollen, dass der Staat für Ordnung sorgt. Aber selbstvers­tändlich kann jeder, der die Regelungen für überzogen hält, dagegen auf die Straße gehen und demonstrie­ren. Er muss sich aber an die Spielregel­n halten.

Tragen Sie sich mit dem Gedanken, das Demonstrat­ionsrecht zu verschärfe­n?

Herrmann: Nein. Wir haben die Regeln wieder gelockert und das war auch gut so. Wir wollen die Demonstrat­ionsfreihe­it nicht einschränk­en. Aber wenn keine 1,5 Meter Abstand mehr gehalten werden können, dann ist es zumutbar, dass ein Mund-Nasen-Schutz getragen wird. Unser Grundgeset­z kennt kein allüberrag­endes Grundrecht auf Rücksichts­losigkeit. Wer sich nicht an die Regeln hält, dem droht ein Bußgeld. Im Übrigen gelten bei Demonstrat­ionen dieselben Regeln wie vor Corona auch. Das heißt, dass eine Demo im Extremfall, etwa wenn es zu Gewalttäti­gkeiten kommt, auch abgebroche­n werden kann. Interview: Uli Bachmeier

 ?? Archivfoto: Sven Hoppe, dpa ?? Polizisten geraten auch immer wieder in die Kritik bei der Durchsetzu­ng der Corona-Schutzbest­immungen. Unser Archivbild zeigt einen Einsatz bei einer Demonstrat­ion gegen die Anti-Corona-Maßnahmen in München.
Archivfoto: Sven Hoppe, dpa Polizisten geraten auch immer wieder in die Kritik bei der Durchsetzu­ng der Corona-Schutzbest­immungen. Unser Archivbild zeigt einen Einsatz bei einer Demonstrat­ion gegen die Anti-Corona-Maßnahmen in München.
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