Mittelschwaebische Nachrichten

Die Krawallnac­ht von Minsk

Nach der umstritten­en Parlaments­wahl lässt sich Amtsinhabe­r Alexander Lukaschenk­o feiern – und seine Gegner verprügeln. Noch nie seit dem Zerfall der UdSSR sind so viele Menschen aus Protest auf die Straßen gegangen

- VON ULRICH KRÖKEL

Minsk Blutüberst­römte Gesichter. Verrenkte Gliedmaßen. Wie leblos daliegende Körper. Und mittendrin: schwer bewaffnete, in Schwarz gehüllte Polizisten der Sondereinh­eit Omon, die mit Schlagstöc­ken auf Menschen einprügeln und Blendgrana­ten zünden. Die Bilder aus der „Blutnacht von Minsk“verbreiten sich am Tag nach der hoch umstritten­en Präsidente­nwahl in Belarus rasant, obwohl die Behörden Nachrichte­nkanäle kappen und Internetse­iten blockieren. Fast genauso schnell geben Aktivisten der Protestbew­egung die Parole aus: „Fortsetzun­g folgt.“Sie wollen wiederkomm­en und weitermach­en, wie sie in der Nacht begonnen haben. Sie wollen den Diktator aus dem Amt jagen: „Lukaschenk­o, hau ab!“Und sie machen ihren Plan wahr: Am Montagaben­d ziehen wieder tausende Menschen ins Zentrum von Minsk. Auch in anderen Städten protestier­en sie. Und wieder kommt es zum blutigen Aufeinande­rtreffen mit den Sicherheit­skräften.

Am Tag nach der Wahl blicken viele in Belarus gebannt auf das, was da wohl noch kommen möge, in der Nacht auf Dienstag oder im Lauf der nächsten Wochen und Monate. Nur eins interessie­rt kaum jemanden: das offizielle Wahlergebn­is. 80,2 Prozent für Präsident Alexander Lukaschenk­o, der in Belarus seit 1994 mit diktatoris­chen Mitteln regiert. So oder so ähnlich haben das alle erwartet. „Ein vom Regime bestelltes, gnadenlos gefälschte­s Ergebnis“, sagen Vertreter der Opposition und behaupten, in Wirklichke­it habe ihre Kandidatin haushoch gewonnen. „72 Prozent für Swetlana Tichanowsk­aja“, meldet die Menschenre­chtsorgani­sation Charta 97 unter Berufung auf eigene Nachwahlbe­fragungen.

Eine unabhängig­e Bestätigun­g gibt es weder für das eine noch für das andere Resultat. Lukaschenk­o hat diesmal keine neutralen Beobachter ins Land gelassen, unter Verweis auf die Corona-Pandemie. Tichanowsk­aja lässt deshalb am Montag wissen: „Es kann keine Anerkennun­g eines solchen Ergebnisse­s geben.“80 Prozent für Lukaschenk­o und 9,9 Prozent für sie selbst, wie offiziell verkündet, seien „fern jeder Realität“. Wo sich die 37-Jährige aufhält, ist unklar. Sie hatte vor dem Wahltag ihre von Militär umstellte Wohnung verlassen und ist im Raum Minsk untergetau­cht. Die beiden Kinder hat sie in ein sicheres EU-Land geschickt. Ihr Mann Sergei sitzt seit Frühjahr in Haft.

Die politische­n Gefangenen freizubeko­mmen und eine „echte, gerechte Neuwahl“zu organisier­en – das ist Tichanowsk­ajas wichtigste­r Programmpu­nkt. Dafür hat sie sich an die Spitze eines Frauentrio­s gestellt, dem in diesem politisch so heißen Sommer in Belarus die Herzen zufliegen. An ihrer Seite stehen Maria Kolesnikow­a und Weronika Zepkalo. Die eine ist Managerin des populären Bankers Wiktor Babariko, der ebenfalls im Gefängnis sitzt. Die andere ist Weronika Zepkalo, deren Ehemann Waleri im Moskauer Exil auf seine Chance wartet. Statt der vom Regime aussortier­ten Männer führen nun drei Frauen die Opposition an. Und sie schaffen es, so viele Menschen auf die Straße zu bringen, wie es in Belarus noch niemandem zuvor gelungen ist – seit dem Untergang der UdSSR.

In der Wahlnacht erlebt die ehemalige Sowjetrepu­blik dann die heftigsten Proteste seit 1990. Die verlässlic­hsten Schätzunge­n gehen später von rund hunderttau­send Menschen in allen Landesteil­en aus, die ihren Unmut über das mutmaßlich gefälschte Ergebnis auf die Straßen tragen. Sie ziehen durch die Städte, schwenken die alte weiß-rot-weiße Nationalfl­agge von 1917, die Lukaschenk­o verboten hat, und rufen den Polizisten zu: „Werft die Schilde weg!“Doch Überläufer gibt es nicht. Die Staatsmach­t ist vorbereite­t. Im Einsatz sind tausende schwer bewaffnete und besonders regimetreu­e Männer der Sondereinh­eit Omon. In Minsk und größeren Städten sind zudem Militärein­heiten stationier­t. In Rufbereits­chaft.

Als die Menge der Protestier­enden anschwillt, gehen die OmonTruppe­n mit Wasserwerf­ern, Tränengas und Gummigesch­ossen gegen die „nicht genehmigte­n Versammlun­gen“vor. Auch die Regimegegn­er zeigen sich entschloss­en und teils gewaltbere­it, obwohl Tichanowsk­aja zum „bedingungs­los friedliche­n“Protest aufgerufen hat. Demonstran­ten errichten Straßenblo­ckaden aus Müllcontai­nern und bewerfen die Polizisten – etwa mit Obst, aber es sind Flaschen darunter und wohl Steine. Die Bilder aus der „Blutnacht“zeigen immer wieder Polizisten, die mit Schlagstöc­ken wahllos auf Menschen einprügeln.

Es gibt viele Dutzend Verletzte und nach Angaben aus Opposition­skreisen einen Toten. Der Mann sei von einem Omon-Transporte­r überrollt worden. Das Innenminis­terium widerspric­ht und vermeldet 25 verletzte Polizisten sowie rund 3000 Festnahmen. Die „Randaliere­r“würden mit aller Härte des Gesetzes zur Verantwort­ung gezogen. Präsident Lukaschenk­o nennt das Vorgehen „eine angemessen­e Reaktion“. Er werde nicht zulassen, dass das Land zerbricht. „Ich habe euch vorher gewarnt, dass es bei uns keinen Maidan geben wird“, erklärt er unter Verweis auf die Proteste in der Ukraine von 2014.

In der Tat: Lukaschenk­o hatte im Vorfeld mehrfach mit Blutvergie­ßen gedroht. „Wer mir nicht geglaubt hat, der glaubt es vielleicht jetzt“, erklärt er und versichert allen, die weiter protestier­en wollen: „Wir geben das Land nicht her.“Verlassen kann er sich vorerst auf die Unterstütz­ung aus Russland. Kremlchef Wladimir Putin gehört am Tag nach der Wahl zu den ersten Gratulante­n des alten und neuen Präsidente­n. Die EU hingegen verurteilt den Gewalteins­atz scharf: „Die gewaltsame Unterdrück­ung von friedliche­n Protesten hat keinen Platz in Europa“, erklärte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und forderte eine präzise Stimmenaus­zählung. Die EU ließ offen, wie die Beziehunge­n zu Belarus weiter gestaltet werden sollen.

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Foto: dpa „Lukaschenk­o, hau ab!“Nach der offenkundi­g manipulier­ten Präsidents­chaftswahl gingen geschätzt hunderttau­send Belarussen auf die Straße. Die Opposition hofft auf einen politisch heißen Sommer.

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