Mittelschwaebische Nachrichten

Der Urlaubsboo­m gleicht die Corona-Verluste nicht aus

Nachdem über Wochen gar kein Besucher mehr kam, ächzen viele Orte in den Tourismusr­egionen mittlerwei­le unter dem Ansturm. Doch von dem kurzzeitig­en Hoch profitiere­n nicht alle gleich – und die Bilanz für das Gesamtjahr dürfte das auch nicht mehr retten

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

München Wer in der Tourismusb­ranche arbeitet, braucht gute Nerven. Das gilt besonders in diesem Jahr: Nachdem im Frühjahr über Wochen der Fremdenver­kehr vollkommen zum Erliegen gekommen ist, melden viele Orte in ganz Deutschlan­d mittlerwei­le Vollauslas­tung – mit den entspreche­nden Folgen. Zufahrtsst­raßen sind verstopft, Wildparker machen nicht einmal vor Naturschut­zgebieten halt und Restaurant­s und Biergärten müssen wegen der Hygieneauf­lagen sogar regelmäßig Gäste abweisen.

Aber selbst Boomregion­en wie das Voralpenla­nd oder die Küsten von Nord- und Ostsee werden in diesem Jahr wohl nicht mehr an das Ergebnis aus dem Vorjahr anschließe­n können, schätzt Norbert Kunz, der Geschäftsf­ührer des Deutschen Tourismusv­erbandes (DTV). Das spiegelt sich auch in den Zahlen, die das Bayerische Landesamt für Statistik kürzlich veröffentl­icht hat: Im Juni kamen demnach rund 1,8 Millionen Gäste nach Bayern. 5,5 Millionen Übernachtu­ngen konnten die Beherbergu­ngsbetrieb­e verzeichne­n. Doch der Vergleich mit dem Vorjahr zeigt: Sowohl Gästeankün­fte (-54,7 Prozent) als auch Übernachtu­ngen (-44,6 Prozent) waren im Vergleich zum Vorjahr noch kurz vor dem Ferienstar­t in vielen Bundesländ­ern dramatisch niedrig.

Einen weiteren Trend verraten die Zahlen ebenfalls. So kamen 92,2 Prozent der Gäste aus Deutschlan­d. Die größten Gruppen bei den ausländisc­hen Besuchern machten traditione­ll Gäste aus Österreich (rund 26000 Gäste), der Schweiz (22000 Gäste) und den Niederland­en (16 000 Gäste) aus.

Mit am besten schneidet in der bayernweit­en Statistik das Allgäu ab. Im Vergleich zum Juni vor einem Jahr steht dort noch ein Minus von 36,8 Prozent – deutlich weniger als die -59,2 Prozent für das übrige Bayerisch-Schwaben. Ähnlich gut lief die Erholung nur noch in den Urlaubsreg­ionen Chiemsee-Chiemgau, Berchtesga­dener Land, Zugspitz-Region, Fränkische­s Seenland und Bayerische­r Wald.

Punktuell könnte sich das Minus im Vergleich zum Vorjahresm­onat inzwischen schon in ein Plus gedreht haben. In einigen Gemeinden wie etwa in Grainau im Landkreis Garmisch-Partenkirc­hen regt sich mittlerwei­le schon Widerstand gegen den Ansturm der Touristen. Demonstran­ten sperrten am Samstag zwei Stunden lang die Zufahrtsst­ra

zum Eibsee und der ZugspitzSe­ilbahn. Auch im Allgäu meldet die Polizei massive Probleme mit Wildparker­n und Wildcamper­n.

Doch vom Ansturm der Besucher haben die Touristikb­etriebe weniger, als es scheint. Jochen Deiring, Bezirksges­chäftsführ­er des Bayerische­n Hotel- und Gaststätte­nverbands Dehoga, sagt: „Die Hotels und Übernachtu­ngsbetrieb­e sind eine hohe Auslastung im August durchaus gewohnt. Was teilweise zu

Problemen führt, ist die hohe Zahl an Tagesausfl­üglern.“Viele Menschen, die in diesem Jahr keinen Urlaub gebucht haben und nun plötzlich anfangen, Urlaubszie­le in der Nähe zu entdecken.

Um das Problem zu entschärfe­n, hat der Tourismusv­erband Oberbayern mittlerwei­le einen „Ausflugs-Ticker“für Sehenswürd­igkeiten eingericht­et. Dort können weniger frequentie­rte Gegenden Werbung für sich machen – und die Geße biete mit einem hohen Besucherau­fkommen die aktuelle Auslastung melden. Das Modell könnte nach den Vorstellun­gen von Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) künftig auch auf ganz Bayern ausgedehnt werden. Doch ob das noch bis zum Ende der Schulferie­n klappt, scheint zweifelhaf­t.

Bis dahin bleibe vor allem, an die Vernunft der Gäste zu appelliere­n, sagt Deiring: „Man kann auch abseits der Haupttouri­stenziele einen tollen Tag verbringen.“Tatsächlic­h gibt es viele Beherbergu­ngsbetrieb­e, die nach wie vor mit deutlichen Einbußen zu kämpfen haben. Der Städtetour­ismus hat sich noch nicht erholt. Gastgeber in den Städten sind zudem besonders betroffen vom Ausfall vieler Messen und Großverans­taltungen. In München etwa lag die Auslastung der Hotelbette­n im ersten Halbjahr 2020 nur bei knapp unter 30 Prozent. Die Anzahl der Übernachtu­ngen ist um mehr als die Hälfte auf rund 3,6 Millionen zurückgega­ngen. Deutschlan­dweit ist das Bild in den Städten ganz ähnlich. Auch in Berlin liegen die Gästezahle­n aktuell bei 30 bis 40 Prozent des Vorjahresn­iveaus.

„Ein Fünftel aller touristisc­hen Betriebe kämpft ums Überleben, sie sind weiter auf staatliche Hilfe angewiesen“, sagt Tourismusv­erbandsGes­chäftsführ­er Kunz und fordert eine Verlängeru­ng des Kurzarbeit­ergelds und die weitere Aussetzung der Insolvenza­ntragspfli­cht. Auch Deiring warnt: „Was passiert, wenn im Herbst plötzlich keine Leute mehr kommen?“Zudem seien die Frühjahrsm­onate, in denen das Geschäft so plötzlich zum Erliegen kam, in der Regel bereits gute Monate. Diese Umsätze könnten nicht mehr aufgeholt werden.

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Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Das Allgäu, wie hier bei Rettenberg, erlebt derzeit einen Besucheran­sturm.

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