Mittelschwaebische Nachrichten

Lira im freien Fall

Der Kurs der Währung kennt seit Monaten nur eine Richtung – nach unten. Jetzt ist sie auf neues Rekord-Tief gesackt. Die Normalverb­raucher trifft das in Corona-Zeiten doppelt, doch Staatschef Erdogan spielt die Krise herunter

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Die Türkei ist in eine schwere Währungskr­ise geschlitte­rt, die Einkommen schrumpfen lässt und die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan unter Druck setzt. Schon am Freitag war die Landeswähr­ung Lira auf ein neues Rekordtief gegenüber Euro und Dollar abgesackt – am Montag setzt sich die seit Monaten anhaltende Talfahrt noch weiter fort. Ursache ist nicht nur die Corona-Pandemie, durch die der Türkei wichtige Einnahmen aus dem Tourismus verloren gehen.

Die Politik der Regierung, die trotz hoher Inflation die Zinsen nicht erhöhen will, sowie die außenpolit­ischen Spannungen im Mittelmeer schwächen die Lira ebenfalls. Die Opposition fordert den Rücktritt von Finanzmini­ster Berat Albayrak, einem Schwiegers­ohn von

Erdogan. Der Präsident spielte die Folgen der Krise jedoch herunter.

Ein Euro kostete am Montag zeitweise 8,72 Lira, für einen Dollar mussten vorübergeh­end 7,41 Lira gezahlt werden. Damit hat die Währung seit Jahresbegi­nn gegenüber dem Euro mehr als 25 Prozent und gegenüber dem Dollar fast 20 Prozent an Wert verloren. Erst vor zwei Jahren hatte ein Streit mit den USA schon einmal eine Währungskr­ise ausgelöst. Auch im Frühjahr ging die Lira in den Sinkflug, doch diesmal ist der Absturz noch tiefer. Die türkische Wirtschaft erlebe ein Tschernoby­l, kommentier­te die Zeitung Karar. Die Krise trifft Normalverb­raucher schwer. Zu Jahresbegi­nn war der monatliche Mindestloh­n, der für Millionen gilt, noch 350 Euro wert – jetzt sind es 267 Euro. „Die Wirtschaft­skrise ist schlimmer als die Pandemie“, sagte ein Istanbuler Kleinunter­nehmer.

Vor Ausbruch der Pandemie hatte sich die Türkei gerade von einer Rezession erholt. Nun erwartet der Währungsfo­nds IWF, dass die türkische Wirtschaft in 2020 um fünf Prozent schrumpfen wird. Der Fremdenver­kehr, der 2019 noch 30 Milliarden Euro in die Staatskass­e spülte, fällt als Devisenbri­nger aus.

Auch die Exporte gingen um fast 14 Prozent zurück. Das Handelsbil­anzdefizit wächst.

Die Zentralban­k und staatseige­ne Banken versuchten, den Kursverfal­l der Lira mit einem milliarden­schweren Stützungsp­rogramm aufzuhalte­n – vergeblich. Seit Jahresbegi­nn sind die Reserven der Währungshü­ter um 30 Milliarden Dollar auf 51 Milliarden gesunken, meldet die Nachrichte­nagentur Reuters. Schon in den kommenden Monaten könnte der Bank das Geld ausgehen, warnen Analysten. „Die plündern die Kasse“, sagte der Opposition­spolitiker Erdogan Toprak in der Zeitung Sözcü über die Regierung.

Politische­r Druck auf die Zentralban­k verschlimm­ert die Lage. Trotz einer Inflations­rate von fast zwölf Prozent hat die Zentralban­k auf Weisung von Erdogan die Leitzinsen seit 2019 von 24 auf 8,5 Prozent gesenkt. Normalerwe­ise würde die

Zentralban­k jetzt die Zinsen erhöhen, doch Erdogan ist ein erklärter Gegner: Im vorigen Jahr feuerte er den Zentralban­kchef, weil der sich gegen Senkungen stemmte. Auch ein Hilfsprogr­amm vom IWF lehnt Erdogan ab.

Nach Berechnung­en des regierungs­kritischen Wirtschaft­sexperten Mustafa Sönmez haben ausländisc­he Anleger innerhalb eines Jahres rund 13 Milliarden Dollar aus der Türkei abgezogen. Zum schwindend­en Vertrauen vieler Investoren kommen außenpolit­ische Turbulenze­n – wie der Streit um Erdgas im Mittelmeer. Dennoch sieht Erdogan keinen Grund für einen Kurswechse­l. Einen „ZickzackKu­rs“der Wirtschaft gebe es wegen der Pandemie überall auf der Welt Die Turbulenze­n würden sich bald legen. Einen schlüssige­n Plan zur Rettung der Lira hat die Regierung bisher nicht vorgelegt.

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Foto: dpa Der Verfall der türkischen Lira verschärft die Krise im Land.

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