Mittelschwaebische Nachrichten
So viele Krisen wie Sand am Meer
In Belgien liegen die Nerven blank. In einem überlaufenen Küstenort greifen Urlauber die Polizei an, es gibt Verletzte. Und das ist nur eines von vielen Problemen in dem Land
Brüssel/Paris In einem Land, das seit 2013 mit 544 Tagen den Weltrekord für eine Zeit ohne amtierende Regierung hält, hören die Bürger im Wiederholungsfall irgendwann auf zu zählen. Rund 430 Tage sind seit den Föderalwahlen im Mai 2019 bereits vergangen – und noch immer zeichnet sich keine Koalitionsmehrheit im Parlament ab. Tatsächlich aber lebt das Land seit Dezember 2018 nur mit geschäftsführenden Premierministern – und das sind gut 600 Tage.
Zwar residiert seit März dieses Jahres die Liberale Sophie Wilmès als Ministerpräsidentin. Sie war eine Notlösung, als das Coronavirus Belgien erfasste. Binnen weniger Tage stattete das Parlament sie mit allen notwendigen Sondervollmachten aus, um im Lockdown nicht führungslos dazustehen. Die 45-Jährige schaffte das, aber vermutlich hatte niemand damit gerechnet, dass sie dem Land nun den inzwischen zweiten Stillstand verordnen musste.
Seit dem 1. August müssen Reisende vor dem Grenzübertritt in das Königreich einen detaillierten Fragenkatalog elektronisch ausfüllen – vorausgesetzt, sie bleiben länger als 48 Stunden im Land. So sollen mögliche Infektionsketten leichter verfolgt werden. Eine App könnte das besser, aber die wird erst im September fertig.
Im ganzen Land wurde die tägliche Einkaufszeit auf 30 Minuten beschränkt. Wer aus Brennpunkten im Ausland zurückkehrt, muss in Quarantäne. Der eigentliche Hotspot aber liegt im flämischen Landesteil. In Antwerpen und etlichen Badeorten an der Küste herrscht seit Ende Juli nachts eine Ausgangssperre. Die Infektionszahlen waren vor allem bei jüngeren Menschen dramatisch angestiegen. Dennoch ist das Verständnis positiv ausgedrückt „begrenzt“. Als am Wochenende in dem völlig überlasteten Küstenort Blankenberge die Polizei anrückte, um eine Schlägerei am Strand zu schlichten, eskalierte die Situation. Die Beamten wollten auch die Maskenpflicht und den Mindestabstand durchsetzen. Sie wurden angegriffen, es gab Verletzte. In Belgien liegen die Nerven blank.
Die Hoffnungen ruhen vor allem auf dem Staatsoberhaupt, König Philippe. Der hatte in seiner Rede zum diesjährigen Staatsfeiertag am 21. Juli ausdrücklich an alle Bürger und die Parteien appelliert: „Es gibt Momente, in denen die Geschichte nicht abwartet.“Der Monarch weiter: „Das ganze Land fordert nun eine entschiedene und stabile Regierung. Enttäuschen wir es nicht.“
Belgien ist in seinen Krisen gefangen, von denen jede allein schon reichen würde, um das Land zu beschädigen. Und dabei sind viele Urlauber noch nicht einmal zurückgekehrt. Die Angst ist groß, dass ihre Heimkehr den für Anfang September geplanten Schulbeginn ebenso unmöglich machen könnte wie eine Rücknahme der jetzigen Beschränkungen. Inzwischen schafft die Regierung wenigstens Testkapazitäten. Im Umfeld von Antwerpen ist ein regelrechtes „Corona-Dorf“entstanden – ein Areal mit Containern, Zelten und jeder Menge Absperrgittern. Rund 600 Personen können hier täglich getestet werden – besonders Reiserückkehrer.
In anderen Landesteilen und auch in Brüssel sind solche Massentests bislang kaum möglich. Belgien hat Krisen, aber bislang keine Lösungen. Eine stabile Regierung scheint weiter nicht in Sicht und ein Rückgang der Infektionen zeichnet sich auch nicht ab.
Nachbar Frankreich hat nicht die Fülle an Krisen vorzuweisen wie Belgien. Aber Corona reicht schon, zumal auch dort die Regeln wieder verschärft werden. Ausgerechnet in der jetzigen Hitzewelle wurde beschlossen, dass in Paris seit Montagmorgen alle Einwohner und Besucher über elf Jahren in besonders belebten Straßen, Einkaufsmeilen und auf offenen Märkten einen Mund-Nasen-Schutz tragen müssen. Dazu gehören etwa die Ufer der Seine, der Montmartre-Hügel, beliebte Einkaufsmeilen, Ausgehviertel vor allem im Osten der Stadt sowie die Bereiche um Touristen-Attraktionen wie dem Eiffelturm und der Basilika Sacré-Coeur.
Insgesamt sind mehr als 100 Straßen in allen Bezirken der Metropole betroffen. „Es ging nach dem Kriterium, dass an einem Ort viele Menschen unterwegs sind und es schwierig ist, die Abstandsregeln einzuhalten“, erklärte Nicolas Nordman, im Rathaus zuständig für die Sicherheit. Soll in den ersten zwei Wochen noch Nachsicht walten, müssen spätestens danach alle, die in den ausgewiesenen Orten ohne Gesichtsmaske unterwegs sind, eine Geldbuße in Höhe von 135 Euro bezahlen. Die Maßnahme gilt vorerst für einen Monat und kann verlängert werden. Die Präfektur begründet sie mit der Tatsache, dass „alle Indikatoren anzeigen, dass das Virus wieder aktiver in der Region zirkuliert“.