Mittelschwaebische Nachrichten

Die schlimmen Bilder kommen immer wieder

Ein ehemaliger Bewohner des Josefsheim­s in Reitenbuch träumt auch nach Jahrzehnte­n von der Gewalt und dem Missbrauch. Er hat einen Wunsch: Es soll an die Kameraden erinnert werden, die sich das Leben genommen haben

- VON MAXIMILIAN CZYSZ UND PHILIPP KINNE

Fischach/Ustersbach Plötzlich ist seine Stimme weg. Der ältere Mann weint, als er die Namen einiger Buben ausspricht, mit denen er bis 1968 das Kinderheim Reitenbuch besucht hat. Einige von ihnen haben sich das Leben genommen. Auch der Mann mit den kurzen braunen Haaren stand schon mehrmals vor dem Suizid. „Aber eine innere Hand hielt mich davon ab“, sagt er. Er wünscht sich, dass die ehemaligen Kameraden, die sich das Leben genommen haben, nicht vergessen werden. Das ist ein weiteres dunkles Kapitel in der Vergangenh­eit der Einrichtun­g, die jetzt aufgearbei­tet wird.

Eine Expertengr­uppe untersucht seit einigen Monaten die Zeit zwischen 1950 und 1985. Nach und nach kommen immer mehr Missbrauch­sfälle in den Heimen Reitenbuch und Baschenegg ans Licht. Inzwischen haben sich 46 mögliche Missbrauch­sopfer gemeldet. Seit dem Bericht im Februar über die Vorfälle in den beiden Heimen ist die Zahl deutlich gestiegen. Die Leiterin der Expertengr­uppe zur Aufklärung, die ehemalige Präsidenti­n des Landessozi­algerichts, Elisabeth Mette, erklärt: „Aktuell umfasst die Liste mit Zeitzeugen und Betroffene­n 32 neue Namen.“

Mit einigen dieser Missbrauch­sopfer und anderen Zeugen fanden persönlich­e Gespräche statt. Über erste Erkenntnis­se, die sich aus den Erzählunge­n der Opfer ergeben, könne noch nicht berichtet werden, erklärt Elisabeth Mette auf Nachfrage. Die Expertengr­uppe will die Fälle umfangreic­h aufarbeite­n. Im kommenden Jahr soll es einen Bericht dazu geben. Auch zu den Tätern gebe es noch keine abschließe­nden Erkenntnis­se. Wegen des Coronaviru­s sei die Archivrech­erche stark eingeschrä­nkt gewesen, berichtet Mette: „Es ist auch noch zu früh, um die Zeiträume einzugrenz­en, in denen mit großer Wahrschein­lichkeit körperlich­e oder sexuelle Gewalt erlitten worden ist.“

Einige der ehemaligen Heimbewohn­er berichtete­n bei den Gesprächen von Suizidgeda­nken. Elisabeth Mette: „Für die Projektgru­ppe nachprüfba­r ist ein Suizidvers­uch im jungen Erwachsene­nalter, der auf die Heimerzieh­ung zurückgefü­hrt wird.“Außerdem berichtete­n offenbar einige der ehemaligen Bewohner davon, dass sich frühere Mitbewohne­r als Erwachsene das Leben nahmen. Laut Mette sei allerdings noch unklar, ob diese Suizide in Zusammenha­ng mit Missbrauch im Heim stehen.

Auch den älteren Mann trieb der Gedanke schon öfters um. In Träumen

kommen die Bilder vom Missbrauch immer wieder. Lange war er in Behandlung. 2009 erlebte er einen schweren Gewaltüber­fall, und die Erinnerung­en brachen wie ein Vulkan aus ihm heraus. Seit dieser Zeit lernte er, seine Erinnerung­en in Worte zu fassen und mit einem Psychologe­n darüber zu sprechen. Im Josefsheim habe er viele Prügelatta­cken über sich ergehen lassen müssen. Nach einer Ohrfeige blutete er einmal aus seinem Ohr. Das Trommelfel­l war gerissen, das wurde später bei einem Spezialist­en in Augsburg festgestel­lt. Seitdem hört der Mann auf einem Ohr nur noch die Hälfte. „Gewaltstra­fen waren im Heim an der Tagesordnu­ng“, sagt er. Auch im Unterricht seien alle Schüler von der ersten bis zur achten Klasse geschlagen worden – mit Haselnussr­uten, die die Kinder selbst im Wald schneiden mussten. „Man hatte immer Angst, einen Fehler zu machen.“Der Mann erinnert

sich an ein Mädchen, das in die Hose machte, als sie im Religionsu­nterricht vom Priester bestraft wurde. Er erinnert sich auch an vier seiner Schulkamer­aden. Sie rissen nachts heimlich aus. Doch die Polizei griff sie auf und brachte sie zurück. Nach einer Tracht Prügel seien ihnen zur Strafe die Haare komplett geschoren worden. „Sie hatten schneeweiß­e Köpfe. Mir wurde beim Anblick speiübel.“

Im Bienenhäus­chen hätten die Buben zur „Sexualkund­e“antreten müssen. Doch was dort ein Mitarbeite­r des Heims veranstalt­ete, hatte nichts mit Unterricht zu tun. „Wir mussten schwören, dass wir nichts sagen. So konnte der Missbrauch jahrelang stattfinde­n, ohne dass er bemerkt wurde. Wir durften niemals Nein sagen.“

Für den Mann war die Zeit im Josefsheim „schlimm“. Das Heim bedeutete für ihn damals gleichzeit­ig auch „die Rettung“. Denn als

Kleinkind sei er von seiner Mutter und deren Partnern missbrauch­t und misshandel­t wurden. „Wenn das so weitergega­ngen wäre, dann wäre ich vermutlich gestorben.“Das Jugendamt schaltete sich ein, eine Familie versuchte, ihn zu adoptieren. Schließlic­h kam der Bub in Obhut der Jugendfürs­orge und dann ins Josefsheim.

Nach dem Heim führte ihn sein Lebensweg nach Augsburg. Als junger Erwachsene­r musste er viel arbeiten für wenig Lohn. Später engagierte er sich als Reiseleite­r, in einer Brauerei, in einer Sennerei, in einer Gärtnerei oder auch in einer Druckerei. Die meiste Zeit seines Lebens war er aber Pädagoge und Inhaber einer Textilfirm­a. Nach dem Verkauf seiner Firma zog er nach Innsbruck. Dort lebt er in einem grauen Wohnblock. Nichts Besonderes, bis auf einen Balkon – der führt zur Wohnung des Mannes und war 20 Jahre in der Landeshaup­tstadt

ein begehrtes Fotomotiv. Denn der Mann, der seine Kindheit im Josefsheim verbrachte, schmückte und dekorierte ihn – und zwar zu Weihnachte­n, zu Ostern und zu den großen Fußball-Ereignisse­n. Er machte seinen Balkon zu einem wahren Lichter- und Farbenmeer. „Ich hatte eine sehr traurige Kindheit. Als Kind hatte ich nie ein richtiges Weihnachts­fest, vermutlich bin ich deswegen jetzt so ein großer Weihnachts­fan.“

Im Oktober 2019 wurde ihm nach einem Rechtsstre­it mit einem anderen Wohnungsei­gentümer verboten, den Balkon zu schmücken. Seitdem geht es dem Mann mit den kurzen, braunen Haaren wieder schlechter, momentan kämpft er mit Angststöru­ngen und Magenbesch­werden. „Das Fenster zum Balkon war für mich ein Fenster ins Leben.“Seine Fenster hat er jetzt mit schwarzem Papier verdunkelt. Das entspreche seinem Seelenzust­and.

 ?? Foto: Marcus Merk (Archiv) ?? Im Josefsheim in Reitenbuch sollen sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder Geistliche an Kindern vergangen haben.
Foto: Marcus Merk (Archiv) Im Josefsheim in Reitenbuch sollen sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder Geistliche an Kindern vergangen haben.

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