Mittelschwaebische Nachrichten
Das Buch zur Wende
Kristina Spohr setzt einen neuen Standard
Manche Bücher müssen inmitten der Flut an Veröffentlichungen auch im Sachbuchbereich über den Tag hinaus Bestand haben. Dieses ist so eines. Es ist nicht nur begeisternd geschrieben, sondern nicht weniger als ein neues Standardwerk über für Deutschland und die Welt entscheidende Jahre. Bereits vergangenes Jahr zum Wendejubiläum erschienen, aber gründliche Lektüre lohnend und ohnehin unverändert zum baldigen Einheitsjubiläum ein Muss: Kristina Spohrs „Wendezeit“.
Die in Düsseldorf geborene, in London und Washington lehrende Historikerin durchdringt die „Neuordnung der Welt“in den Jahren 1989–1992, nach denen tatsächlich nichts mehr so war wie vorher. Länder wie die Sowjetunion, Jugoslawien oder die Tschechoslowakei sind zerfallen, andere haben sich daraus neu definiert: die baltischen Länder, viele haben sich von ihren Blöcken gelöst. Einige der Hauptakteure haben die Bühne verlassen müssen: Gorbatschow wurde nach einem Putsch von Jelzin verdrängt, George Bush wurde von Wählern, Margaret Thatcher von ihrer eigenen Partei weggeschickt. Am Anfang stand die Verheißung von Frieden und Freiheit. Doch es gab gegen den Irak und beim Zerfall Jugoslawiens blutige Kriege. In China begannen diese Jahre mit dem Massaker auf dem Tiananmen und mündeten bei aller Unfreiheit in eine erfolgreiche Fortsetzung des Kapitalismus unter der Herrschaft seiner Kommunistischen Partei.
Wer das alles in den Blick nimmt wie Kristina Spohr, der kann sich leicht übernehmen. Sie aber fügt das alles zu einer großartigen Erzählung zusammen, die das ganze Ausmaß erfasst. Sie beweist, dass Persönlichkeiten, früher sagte man „Männer“Geschichte machen, und zwar durch die persönliche Beziehung. Natürlich, auch die „tiefen Taschen“von Helmut Kohl und sein „Scheckbuch“als Schmiermittel spielen eine Rolle, Spohr beziffert die Dollaroder D-Mark-Wünsche der zerfallenden Sowjetunion, der aus ihr entstandenen Staaten – und auch der USA zur Verteilung der Kosten des Krieges gegen Saddam Hussein. Denn das hohe Haushaltsdefizit und die Rezession waren Hauptgründe für Clintons Sieg über Bush: „It’s the economy, stupid!“
Aber dabei bleiben die großen Bögen erkennbar. Zwei Karten auf dem Vor- bzw. dem Nachsatz des Buches zeigen die Dimension der Neuordnung: Die eine zeigt die „feindlichen Blöcke“im Kalten Krieg, die andere den „Beginn des Pazifischen Jahrhunderts“, die Welt im Jahr 2017. Auf ihr sind die Staaten rot markiert, deren größter bzw. zweitgrößter Handelspartner China ist – es sind fast alle auf allen Kontinenten, auch Deutschland.
Natürlich ging die Geschichte nach 1992 weiter. Aber die heutige Welt ist ohne die von der Autorin so meisterhaft beschriebene Neuordnung nicht zu verstehen. Und gut gewählte Anekdoten sorgen immer wieder für Entspannung von dem faktengesättigten Stakkato der Ereignisse. Alles ist nach den Quellen belegt und selbst manche Fußnote enthält interessante Details. Für diejenigen, die diese vier Jahre miterlebt haben, hilft dieses Buch der nachlassenden Erinnerung nach und wartet darüber hinaus mit seinerzeit nicht wahrgenommenen Einzelheiten auf. Für die Nachgeborenen ist die „Wendezeit“ein Schlüssel zum Verständnis unserer Zeit.
Übs. v. Helmut Dierlamm u. Norbert Juraschitz DVA, 976 S., 42 ¤