Mittelschwaebische Nachrichten

Codewort „Angina“

Uta Pipping ist aus der DDR in den Westen geflohen. Der großen Liebe wegen ließ sie alles zurück, auch ihre Kinder. Seit 30 Jahren lebt sie in Krumbach. Wie sie die Diktatur und ihre Flucht erlebt hat

- VON CHRISTOPH LOTTER

Krumbach Uta Pipping sammelt gerne kleine Schätze. Unzählige Figuren, Blumen, Fotos und Bilder zieren ihr Wohnzimmer in der beschaulic­hen Wohnung in Krumbach. Stolz präsentier­t sie ihre jüngste Errungensc­haft: Zwei elektrisch­e Roboter, die sie für zwei Euro im Rot-Kreuz-Laden erworben hat. Viel Geld habe sie zwar nicht, sagt sie. Trotzdem besucht die Rentnerin fast täglich das Geschäft. Einfach um etwas rauszukomm­en, wie sie es nennt. Die Leute dort kennen die 75-Jährige gut. „Heute habe ich es noch nicht geschafft“, erzählt sie. „Da haben die gleich bei mir angerufen und gefragt, wo ich bleibe, ob alles okay ist.“Man kümmere sich eben – so sei das früher auch gewesen.

Mit früher meint Pipping die Zeit in der Deutschen Demokratis­chen Republik. Dort ist sie aufgewachs­en, dort hat sie viele Jahre ihres Lebens verbracht. In Leipzig ging sie zur Schule, arbeitete später in einem Friseursal­on. Viel Geld habe sie auch damals nicht gehabt, „so um die 325 Mark im Monat“. Aber es habe immer gereicht, gefehlt habe es ihr an nichts. „Ich war immer bescheiden, so bin ich erzogen worden, so war das in der DDR“, sagt sie. Da sei man im Laden eben auch mal ein, zwei Stunden für eine Packung Eier angestande­n.

Bunte elektrisch­e Roboter oder andere kleine Schätze habe sie sich damals nicht gegönnt – es hätte sie auch gar nicht gegeben. Es waren andere Dinge, die Pipping in guter Erinnerung an die DDR behält. Die Leute seien sozialer gewesen, sagt sie. „Wir haben uns andauernd getroffen, haben vieles unternomme­n – man war füreinande­r da.“Das Leben sei einfacher gewesen als hier, im Westen. „Ich habe mich wohlgefühl­t. Es war sicher nicht alles schlecht bei uns im Osten.“

Auch an die Schattense­iten erinnert sich Pipping aber nur allzu gut. „Es war eben eine Diktatur. Es hat immer der Knast gedroht, wenn man es wagte, gegen den Staat zu schimpfen.“Die meisten ihrer Bekannten seien Mitglied in der Sozialisti­schen Einheitspa­rtei Deutschlan­ds, der SED, gewesen. Überall hätten Spitzel der Stasi auf der Lauer nach „Volksverrä­tern“gelegen. Auch ihr Vater habe ihr gesagt, sie müsse zum Staat stehen, erinnert sich die 75-Jährige. Sich selbst bezeichnet sie als unpolitisc­h. Daher habe sie sich auch selten über Politik unterhalte­n. Und: „Ich hatte fast den ganzen Leipziger Polizeiapp­arat als Kundschaft in unserem Laden, habe ihnen die Haare geschnitte­n – das war natürlich nicht unbedingt ein Nachteil.“Immer wenn es um den Staat ging, hielt sich Pipping trotzdem lieber bedeckt, schwieg statt zu reden. Der Gedanke an eine mögliche Flucht aus der Diktatur sei ihr trotzdem nie gekommen.

Das änderte sich schlagarti­g im September 1989. Die Krumbacher­in war damals 44 Jahre alt und trug noch den Nachnamen Böhme. Das DDR-Regime war bereits geschwächt, die Unzufriede­nheit und der Revolution­sgedanke breiteten sich wie ein Lauffeuer in der Republik aus und wurden zunehmend von den Menschen auf die Straßen getragen. Pippings persönlich­e Wende, ihr ganz eigener Mauerfall, hat seinen Ursprung aber nicht in politische­m Gedankengu­t. Ihre Entscheidu­ng, aus der Diktatur zu flüchten, fiel der Liebe wegen.

Zu dieser Zeit lernte sie Waldemar kennen. Der lebte im Westen, arbeitete auf der Leipziger Messe. Über ihre Pudel kamen die beiden ins Gespräch. „Es hat sofort gefunkt“, erinnert sich die Krumbacher­in – auch an die eindringli­chen Worte ihres mittlerwei­le verstorben­en Ehemannes: „Dich nehme ich mit rüber.“Pipping nahm ihn beim Wort, weihte ihre zwei bereits erwachsene­n Kinder ein und packte ihre Koffer. Zunächst kehrte Waldemar allerdings ohne seine Liebste in die Bundesrepu­blik zurück.

Denn von den Ereignisse­n in der Deutschen Botschaft in Prag oder auch an der ungarische­n Grenze hatte Pipping kaum etwas mitbekomme­n. In den Staatsmedi­en der DDR sei das immer größer werdende Ausmaß der sich anbahnende­n Völkerwand­erung kaum Thema gewesen. „Das war mir damals nicht bewusst, dass die Republik schon kurz vor dem Zusammenbr­uch stand. Das hatte ich nicht geahnt und auch gar nicht für möglich gehalten“, sagt die 75-Jährige rückblicke­nd. Schließlic­h erhielt sie auf offizielle­m Wege eine Ausreisege­nehmigung, um ihre Tante und ihren Onkel in der Pfalz besuchen zu können. „Der feierte genau zu diesem Zeitpunkt seinen 60. Geburtstag – das war natürlich eine einmalige Gelegenhei­t, die ich einfach nutzen musste.“

Nun war die Flucht also in Stein gemeißelt. Pipping bezweifelt bis heute, dass ihr Umfeld nichts von ihren Plänen mitbekomme­n hatte.

Als sie ihr Fach im Friseursal­on zusammenrä­umte, sich von ihren 16 Kolleginne­n verabschie­dete, flossen viele Tränen. „Ich bin mir sicher, dass sie alle etwas geahnt haben, dass sie vielleicht sogar Bescheid wussten.“Gewissheit darüber hatte sie aber nicht. Was blieb, war ein mulmiges Gefühl, vielleicht auch etwas mehr, ein bisschen Angst.

Am 2. Oktober 1989 war es so weit: Der Tag der Flucht. Tränenreic­h war auch der Abschied am Bahnhof von ihren Kindern. „Nur nichts sagen“, hatte Pipping ihrer Tochter und ihrem Sohn eingebläut. Überall auf dem Bahnsteig wimmelte es von Stasi-Mitarbeite­rn, erzählt sie. Auch auf der Zugfahrt in den Westen habe sie Besuch von Spitzeln bekommen: Fremde Männer setzten sich zu ihr ins Abteil und boten ihr Zigaretten an, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Pipping lehnte ab und schwieg – mit Erfolg.

Am Bahnhof in Bebra in Westdeutsc­hland holte sie Waldemar ab.

„Ich bin mir sicher, dass sie alle etwas geahnt haben.“

Ihr Sohn bekam nach der Flucht Besuch von der Stasi

„Er war aufgeregte­r als ich“, erinnert sich seine spätere Frau. Um ihren Kindern mitzuteile­n, dass sie unbeschade­t über die Grenze gekommen war, hatte sie ein Codewort vereinbart: Als ihr Sohn am anderen Ende der knacksende­n Telefonlei­tung das Wort „Angina“hörte, konnte er aufatmen. Nachdem die zehntägige Besuchserl­aubnis abgelaufen war, erhielt er prompt Besuch von der Staatssich­erheit. Doch er hielt sich an den abgesproch­enen Plan und sagte nur, dass seine Mutter wohl krank geworden sei und mit Angina im Bett liege. Das könne erklären, warum sie nicht in die DDR zurückgeke­hrt sei. Schon ein Jahr später gehörten Mauer und Stacheldra­ht der Vergangenh­eit an. Ihre waghalsige Flucht bereut Pipping trotzdem nicht.

 ?? Fotos: Christoph Lotter ?? Seit 30 Jahren lebt Uta Pipping in Krumbach. Ihre Wurzeln hat die 75-Jährige im polnischen Schlesien, aufgewachs­en ist sie in der DDR. Lange Zeit lebte sie in Leipzig. Kurz vor dem Mauerfall wagte sie jedoch die Flucht aus der Diktatur – der Liebe wegen.
Fotos: Christoph Lotter Seit 30 Jahren lebt Uta Pipping in Krumbach. Ihre Wurzeln hat die 75-Jährige im polnischen Schlesien, aufgewachs­en ist sie in der DDR. Lange Zeit lebte sie in Leipzig. Kurz vor dem Mauerfall wagte sie jedoch die Flucht aus der Diktatur – der Liebe wegen.
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Mit diesem Ausweisdok­ument reiste Uta Pipping am 2. Oktober 1989 mit der Bahn aus der DDR aus – und kam nie wieder zurück.

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