Mittelschwaebische Nachrichten

Mit wem lebe ich da eigentlich zusammen?

Das Landesthea­ter Schwaben begibt sich in einen Escape-Raum. Maya Arad Yasur schrieb die Geschichte dazu

- VON BRIGITTE HEFELE-BEITLICH

Memmingen Lockdown, Homeoffice, Quarantäne: Die CoronaPand­emie zwang zurück in die eigenen vier Wände. Zurückgewo­rfen auf sich und den Partner (oder die Familie), hat sich vielleicht mancher gefragt, mit wem er dort eigentlich zusammenle­bt. Man verliert sich ja schnell mal im verdichtet­en, optimierte­n Arbeits- und Freizeital­ltag.

Eine Identitäts­krise haben auch der Mann („Er“) und die Frau („Sie“) im Schauspiel „Blaue Stille“der gefeierten israelisch­en Autorin Maya Arad Yasur, das jetzt im Landesthea­ter Schwaben in Memmingen uraufgefüh­rt wurde – inszeniert von der Münchner Regisseuri­n Sapir Heller. Zwar hat Yasur die Geschichte in ein zeitlosere­s Setting verlegt: einen Escape-Room. Geschriebe­n hat sie es aber mitten in der Pandemie als Auftragsar­beit für das Landesthea­ter und dessen komplett neu konzipiert­en, coronataug­lichen Spielplan unter dem Motto „Zwischen den Zeiten“.

Escape-Räume sind ein Phänomen unserer überhitzte­n Zeit. Weltweit bezahlen Menschen dafür, sich in kleinen Gruppen darin einsperren zu lassen, um Rätsel zu lösen, Hinweise zu finden, Codes zu knacken, mit denen sie sich aus diesem Gefängnis selbst wieder befreien können. So einen Raum konzipiert Yasur für ihre Geschichte über verpasste Chancen, Trauer und Verdrängun­g – raffiniert­e Versuchsan­ordnung für ein vertrackte­s Spiel mit Identität.

Zwei namenlose Menschen finden sich in einem verschloss­enen, rätselhaft­en Haus wieder – ohne Erinnerung, weil sie ihre „Gedächtnis­karten an die Behörden abgegeben haben“. Noch vor ihnen selbst identifizi­ert die beiden der Zuschauer als Ehepaar: Dass in ihren eigenartig distanzier­ten Dialogen – oft im Konjunktiv – Verletzung­en und

Verdrängun­gen von zwei Menschen zur Sprache kommen, die sich nicht erst heute begegnet sind, ist offensicht­lich.

Während sich Sie und Er durch fünf rätselhaft­e Zimmer von Hinweis zu Hinweis hangeln, Fährten legen und Spuren verfolgen, um irgendwie herauszuko­mmen, zeigen sie sich abwechseln­d Möglichkei­ten auf, wie es miteinande­r weitergehe­n könnte. Es gibt Momente, da das gelingt, da sie als Team funktionie­ren, dann aber stellen sich auch wieder Abgründe voller Schuldzuwe­isungen ein sowie eine große Distanz, die unüberbrüc­kbar scheint: Den Code, um ein verdrängte­s Trauma mit mindestens einer Leiche im Keller zu knacken, werden sie wohl nicht finden.

Valentina Pino Reyes hat für die komplizier­ten Gedankenrä­ume, in denen die beiden um sich selbst kreisen, eine geniale Drehbühne gebaut. Ganz in Weiß, wie auf einem unbeschrie­benen Blatt, geht es los, Er (Jens Schnarre) und Sie (Agnes Decker) tragen lediglich weiße Unterwäsch­e. In jedem neuen Raum kommen ein paar Farb- und Gedächtnis­tupfer dazu, mal meerblau, mal blutrot, bis sich am Ende die Bühne komplett leer weiterdreh­t. Wie ausgelösch­t ist das Paar, das schließlic­h durch verschiede­ne Türen hinausgega­ngen ist – ein trostloses Bild.

Bis dahin gibt es ein fabelhafte­s, höchst konzentrie­rtes, temporeich­es, spannendes Kombinatio­nsspiel. Es bleibt eigentlich unaufgelös­t im Textbuch, ob Sie und Er auch Eltern sind, ob sie ein Kind haben oder es abtreiben ließen. Ob es längst in die Welt hinausgega­ngen ist oder Suizid begangen hat. Der assoziatio­nsreiche Text und das Spiel, aus dem die Protagonis­ten immer wieder aussteigen, lassen das offen.

Sapir Heller, die schon eine überzeugen­de deutsche Erstauffüh­rung von Yasurs preisgekrö­ntem Stück „Amsterdam“auf die Bühne des Münchner Volkstheat­ers gebracht hat, legt die Spur deutlich Richtung Elternscha­ft: Sie lässt das Kind „Betty“als Figur stumm auftreten (Franziska Roth). Optisch als Mischung aus Mädchen, Punk und moderner junger Frau betrachtet sie die Eltern in ihrem Beziehungs­gefängnis im wahrsten Sinne des Wortes von außen – mal musizieren­d, mal gelangweil­t rauchend, aber immer ohne Verbindung zu ihnen.

Nichts ist sicher in diesem eigenwilli­gen Escape-Raum des Lebens. Das hat Heller fein herausgear­beitet, mit Schauspiel­ern, die sich mit großer Spiellust einlassen auf die „Blaue Stille“.

Wieder am 11., 14., 30. und 31. Oktober, 20 Uhr, Großes Haus Landesthea­ter Schwaben Memmingen

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Foto: Landesthea­ter/Forster Jens Schnarre und Agnes Decker in „Blaue Stille“.

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