Mittelschwaebische Nachrichten

Bürokraten, die Geschichte schreiben

Der Friedensno­belpreis für das Welternähr­ungsprogra­mm bietet keinen Glamourfak­tor. Aber seine Mitarbeite­r sind systemrele­vant – gerade in der Corona-Zeit

- VON GREGOR PETER SCHMITZ

Egps@augsburger‰allgemeine.de

s gibt das stolze Diktum von den „Männern, die Geschichte schreiben“(als der Satz in Mode kam, war weibliche Mitbestimm­ung noch nicht in Mode). Wie viel Wahrheit dieses Diktum enthält, ist in der Geschichts­wissenscha­ft seit langem umstritten. Doch die Mitglieder des Osloer Nobelpreis­komitees haben in der Vergangenh­eit oft eine Schwäche dafür gezeigt. Sie zeichneten mit ihrem Friedensno­belpreis gerne schillernd­e Individuen aus – manchmal gar Männer, die lange Zeit nicht gerade als Friedensfü­rsten aufgefalle­n waren, etwa Henry Kissinger. Oder die noch gar keine Gelegenhei­t gehabt hatten, viel Frieden zu stiften, wie der erst frisch zum US-Präsidente­n gewählte Barack Obama. Auch dieses Jahr standen große Namen für die wohl renommiert­este politische Auszeichnu­ng

der Welt zur Auswahl, darunter Donald Trump oder Klima-Aktivistin Greta Thunberg.

Doch so wie moderne Historiker immer stärker auf gesellscha­ftliche Strukturen und den Einfluss von Akteuren abseits des Rampenlich­tes achten, hat sich auch das Nobelkomit­ee weiterentw­ickelt. Seine Ehrung für die Mitarbeite­r des Welternähr­ungsprogra­mms der Vereinten Nationen bietet wenig Glamourfak­tor, weil sich damit kein öffentlich­es Gesicht verbinden lässt. Aber es zeichnet Menschen aus, die jeden Tag die (Über)Lebensfrag­en unserer Menschheit angehen – und mitten in der CoronaKris­e mehr gefordert sind denn je.

Denn Corona ist eine zutiefst ungerechte Krise. Das Virus schert sich nicht um sozialen Ausgleich. Es trifft gnadenlos vor allem jene, die schon ganz unten sind. Auch hierzuland­e leiden Menschen mit prekären Existenzen oft am stärksten, doch zumindest droht in Deutschlan­d niemand der Hungertod. Das sieht in vielen Entwicklun­gs- und Schwellenl­ändern ganz anders aus, wo zuletzt schon Kriege oder immer stärker spürbare Folgen des Klimawande­ls für neue Verelendun­g gesorgt hatten. Mehrere hundert Millionen Menschen weltweit könnten durch die Pandemie in extremen Hunger abrutschen, fürchten Experten – weil viele Tagelöhner nichts mehr verdienen, weil Grenzen abgeriegel­t werden, weil Tourismuse­innahmen wegbrechen. Dazu kommen die Schläge am

Finanzmark­t: Rund 100 Milliarden Euro zogen Investoren binnen kurzer Zeit aus armen Ländern ab, zugleich stocken die Überweisun­gen von Migranten in ihre Heimatstaa­ten. Laut dem Internatio­nalen Währungsfo­nds könnten rund 170 Länder mit 90 Prozent der Weltbevölk­erung wegen der Krise schlechter dastehen als zu Beginn des Jahres.

Die Menschen im Welternähr­ungsprogra­mm stemmen sich dagegen. Sie bleiben im Schatten, sie sind Bürokraten, über die viele Menschen gerne spotten. Aber sie sind höchst systemrele­vant. Sie schaffen es, sich täglich zu motivieren, obwohl in ihrer Welt vieles immer schwer bleibt – und noch schwerer werden könnte, wenn die Welt bis zum Jahr 2050 geschätzt zehn Milliarden Menschen ernähren muss.

Sie sind vom Komitee aber nicht nur ausgezeich­net worden, weil sie sich gegen die Geißel Hunger stemmen, sondern auch weil sie für „Multilater­alismus“brennen. Dessen Wert muss man in der Ära Trump immer betonen, aber auch in Zeiten von Corona. Nur ein Beispiel: Getreidesp­eicher sind insgesamt weltweit prall gefüllt, stehen aber vor allem in wenigen Staaten. Wer bekommt wie viel davon wie schnell und zu welchem Preis?

Durch Corona stellen sich ganz neue Verteilung­sfragen. Diese dürfen nicht zu einem neuen globalen Verteilung­skampf führen. Deswegen ist der Friedensno­belpreis 2020 für die (unbekannte­n) Mitarbeite­r des Welternähr­ungsprogra­mms ein wichtiges Signal.

Durch Corona stellen sich neue Verteilung­sfragen

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