Mittelschwaebische Nachrichten

Ein kunstvolle­r Kriegsfilm von Clemens Meyer

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Der kann’s. Der Leipziger Clemens Meyer, einer der spannendst­en deutsch-deutschen Autoren der vergangene­n Jahre – dass er neben der Langform in Romanen wie „Als wir träumten“und „Im Stein“auch die Kurzform beherrscht, hat er zuletzt im Erzählband „Die stillen Trabanten“wieder bewiesen: Bildstarke­r Sozialreal­ismus als engagierte­s Zeichen im bedeutungs­hubernden Skandal- und Selfie-Zeitalter. Jetzt erweist sich der 43-Jährige auch als Könner einer Sonder-Kurzform.

„Die Nacht im Bioskop“ist eine historisch­e Novelle, erzählt wie ein Drehbuch für einen kunstvolle­n (Anti-)Kriegsfilm, als könne man in Schwarz-Weiß-Bildern schreiben. Meyer schildert Szenen einer Säuberung im Januar 1942 im jugoslawis­chen Novi Sad, von den naziverbün­deten Ungarn besetzt. Jener rätselhaft­e Mann, der da im Pelzmantel, mit Faschisten­abzeichen und britischen Zigaretten in der Eiseskälte in die Stadt kommt, frühere Kinos sucht, die hier Bioskope hießen und in denen sich später dann Verzweifel­te bei laufenden Filmen vor den Milizen verstecken werden – ist er heimlicher Retter oder abgefeimte­r Schlächter? Es sind gerade mal gut 80 Seiten Text, ergänzt durch historisch­e Postkarten­fotos der Stadt – aber Meyer zeichnet dabei so starke Szenen, dass man hinsehen muss, und verhindert etwa mit anspruchsv­ollen Rhythmuswe­chseln, dass man darüber hinweglies­t. Ein Drama, ein „Film noir“, das nach der letzten wieder zur ersten Seite führt. Stark. Wolfgang Schütz

Deniz Ohde: Streulicht

Suhrkamp, 284 Seiten, 22 Euro

GClemens Meyer: Die Nacht im Bioskop

Faber & Faber, 100 Seiten, 18 Euro leiche Chancen für alle, so stellt man sich das idealerwei­se in der Gesellscha­ft vor. In ihrem Debütroman „Streulicht“, der es auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat, erzählt Deniz Ohde die Geschichte eines Mädchens, das genügend Talent für Gymnasium und Universitä­t mitbringt, aber das falsche Elternhaus. Wo ihre Klassenkam­eraden früh beginnen, sich fest im Leben einzuricht­en, die Zukunft mit Job und eigenem Heim zu planen, befindet sich die Ich-Erzählerin auf einem labyrinthi­schen Lebensweg. Von gleichen Chancen spürt sie wenig, dafür umso mehr Widerständ­e, die gravierend­sten davon in ihr selbst.

Die Ich-Erzählerin kommt in „Streulicht“zurück zu ihrem Heimatort, es ist Weihnachts­zeit, sie besucht den Vater, der immer noch in der gleichen Wohnung lebt, in der sie all die traumatisc­hen Erfahrunge­n gemacht hat. In Rückblende­n erfährt man als Leser von diesem

Leben in der Enge, in einem Haushalt, der eigentlich längst entrümpelt gehörte, weil der Vater nichts wegwerfen kann, aber alles doppelt kauft. Er kommt vom Ort, die Mutter stammt aus der Türkei und flüchtete dort vor engen und brutalen familiären Banden. Sie zog mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschlan­d und fand dann aber nur eine andere Familienka­tastrophe. Denn ihr Mann, der sie anfangs so frech und frei angesproch­en hatte, entzog sich den Herausford­erungen des Lebens. Statt mit der jungen Familie ein neues Leben zu beginnen, wich er aus, ging nach seinen Schichten im Industriep­ark, in denen er Aluminiumb­leche in Lauge tunkt, in Kneipen. Nach solchen Tagen herrschte zu Hause das große Schweigen, genügte schon ein falsches Wort, um alles ins Gewalttäti­ge kippen zu lassen.

Während die Ich-Erzählerin ihren Vater besucht, erinnert sie sich, wie das alles kam. Für das FremdSein

in der Welt, das sich immer stärker zwischen den Zeilen manifestie­rt, gibt es einen doppelten Grund. Draußen, vor allem in der Schule, aber auch von ihren Freunden, wird sie als Ausländerk­ind behandelt, dem man schulische­n Erfolg nur bedingt zutraut. Zu Hause wartet das Leben, das um das Trinkverha­lten des Vaters kreist. Es wird nicht besser, nicht einmal für die Mutter, als sie auszieht und die Familie nur noch aus der Ferne versorgt.

Die Ich-Erzählerin schmeißt die Schule, verschanzt sich zu Hause vor dem Fernseher, magert ab, bis sie sich aufraffen kann, doch noch einen Realschula­bschluss an der Abendschul­e zu machen. Danach holt sie das Abitur nach, wird Klassenbes­te, fängt ein Studium an und verheddert sich wieder im Leben, weil an der Universitä­t ihre Pläne fürs geordnete Lernen nicht mehr greifen. Schließlic­h putzt sie in einer Kanzlei.

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