Mittelschwaebische Nachrichten
Ein Sonntag, der alles verändert
„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“Was für ein Einstiegssatz! Es ist dieser lakonisch klingende Satz, mit dem die französische Autorin Annie Ernaux das Schweigen über ein Lebenstrauma aufbricht – und sich schreibend von der Scham löst, die diese Schlüsselszene ihrer Kindheit ausgelöst hat.
Ernaux, geboren 1940, ist mit ihren autobiografischen Werken zu einer viel beachteten literarischen Stimme geworden, weit über Frankreich hinaus. Als Erforscherin ihres eigenen Lebens hat sie über ihre kleinbürgerliche Abstammung (die Eltern betrieben einen Laden mit Kneipe in einer Kleinstadt in Nordfrankreich) und ihre Befreiung aus diesem katholischen Milieu immer wieder geschrieben – in schonungslos wahrhaftigen Büchern über ihre Mutter, über ihren Vater, über ihren schwierigen Weg der sexuellen Emanzipation. In „Die Scham“stellt sich Ernaux auf 110 Seiten dem Trauma ihrer behüteten Kindheit – und reflektiert Erinnerungsprozesse und das Schreiben. Sie war 12, als der Vater mit der Axt auf die Mutter losging. Später saßen alle wieder in der Küche zusammen – doch Annies Leben war nach diesem 15. Juni 1952 ein anderes. „Wie ein Filter lag dieser Sonntag zwischen mir und allem, was ich erlebte.“Wie die Autorin nun Jahrzehnte später in ihre Schulzeit und Jugend hineinleuchtet und die Wurzeln ihrer Scham, die wie eine Gefangenschaft war, freilegt, das ist bewegend zu lesen. Michael Schreiner