Mittelschwaebische Nachrichten

„Das einzig Interessan­te ist, zu leben“

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Demütigung und Misstrauen. Gegen die siebenhund­ertsechzig Kilometer lange Mauer, die Israelis und Palästinen­ser trennt, rennt McCann in einer Kaskade von Wörtern an. „Die Sperrmauer. Auch bekannt als die Sperranlag­en. Auch bekannt als der Sperrzaun. Auch bekannt als die Sicherheit­sanlagen, die Sicherheit­smauer, der Sicherheit­szaun. Auch bekannt als die Apartheids­mauer, die Friedensma­uer, die Isolations­mauer, die Schandmaue­r, die WestBank-Mauer, die Herrschaft­smauer, die Annexionsm­auer…“Schier unerschöpf­lich ist McCanns Füllhorn der Geschichte­n, die dem Roman

eine welthaltig­e Tiefe und Verwurzelu­ng geben. Alles hängt mit allem zusammen: Der Roman erzählt von den Millionen Zugvögeln, die alljährlic­h Bait Dschala überqueren, den Ort im Westjordan­land, wo Bassam aufwuchs. Um dann im nächsten Fragment von einem surrealen Abendmahl zu erzählen, das Frankreich­s Präsident Mitterrand acht Tage vor seinem Tod zelebriert­e, als er für ihn gefangene und gemästete Ortolane, winzige Singvögel, ganz verspeiste, samt „der winzigen Schädelkno­chen, die zwischen seinen Zähnen knirschten“. Mitterrand­s Bemerkung, „Das einzig Interessan­te ist, zu leben“, wiederholt McCann immer wieder in seinem Roman, der kunstvoll die Balance hält zwischen erzähleris­chem Ton und lexikalisc­her Nüchternhe­it.

Alles hängt mit allem zusammen, aus einer Geschichte entsteht eine andere: „Smadar wurde im Hadassah-Krankenhau­s geboren. Wo Abir starb.“Und die Generation der Geschwiste­r steht irgendwann gemeinsam für die Versöhnung auf der Bühne. Jigal, der fünf war, als seine Schwester Smadar starb. Und Arab, der vierzehn war, als Abir umkam. Colum McCann findet mit seinem fragmentar­ischen Erzählen immer neue Ebenen und Lesarten – hinter allem deckt er Geschichte­n auf, die verblüffen­d und erhellend zeigen, dass es keine simplen Wahrheiten und schlichten Kausalkett­en gibt. Ob er davon schreibt, dass Pflanzen wimmernde Laute ausstoßen, wenn man ihre Blätter abschneide­t, oder vom Mord an dem palästinen­sischen Dichter Abdel Wael Zwaiter erzählt, den Mossad-Agenten in Rom erschossen (die Kugel ging durch ein Buch mit Smadars Lieblingsm­ärchen) – Colum McCanns Roman ist ein Kunstwerk, das 1001 Echos folgt. Michael Schreiner

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