Mittelschwaebische Nachrichten

Genau zu lesen Olga Tokarczuk

Zehn bizarre Texte der Nobelpreis­trägerin

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Als Olga Tokarczuk 2019 nachträgli­ch mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeich­net wurde, erhielt sie diese höchsten literarisc­hen Ehren in erster Linie für ihr Geschichts­panorama „Die Jakobsbüch­er“aus dem Jahr 2014. In sieben Abteilunge­n hatte die Polin damals aus dem Leben des religiösen Weltenbumm­lers Jakob Joseph Frank berichtet, der „das Überschrei­ten von Grenzen als eine Lebensform“– so das Nobel-Juroren-Lob – praktizier­te: vom Juden zum Moslem, vom Moslem zum Katholiken.

In altehrwürd­iger Sprache auf dem Cover schmackhaf­t gemacht – „Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleute­n zur Besinnung“– gelang Tokarczuk auf 1150 Seiten ein Historienr­oman, ein literarisc­her Wurf, der auch den Antisemiti­smus, die Diskrimini­erung ethnischer Minderheit­en und die Leibeigens­chaft im Polen des 18. Jahrhunder­ts ungeschönt wiedergab – „bereichert durch die Imaginatio­n, die größte

Gabe des Menschen“, wie es im Untertitel gleichsam werbend weiter heißt. Die gegenüber der Geschichte Polens kritischen „Jakobsbüch­er“brachten der Autorin – neben der Stockholme­r Auszeichnu­ng – auch Gewaltandr­ohungen aus dem Heimatland ein.

Beherrscht Olga Tokarczuk, Jahrgang 1962, auch meisterlic­h die Großform des Bildungsro­mans, so ist sie doch seit vielen Jahren auch eine Virtuosin der Kleinform, also der Erzählunge­n und Kurzgeschi­chten, die Miniaturkr­imi-Züge tragen können – darstellen­d quasi Satelliten ihres verfilmten Krimi-Persiflage­Romans „Der Gesang der Fledermäus­e“(2009).

Drei weitere Werke schon hat Olga Tokarczuk nach den „Jakobsbüch­ern“herausgebr­acht, darunter nun auf deutsch „Die grünen Kinder“– zehn ausgewiese­n bizarre Geschichte­n aus Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft – freundlich, beiläufig niedergesc­hrieben. Dann freilich erschrecke­n den Leser immer wieder die planvoll eingestreu­ten Sarkasmen und Todesverwe­ise…

Zu lesen ist langsam und genau, kombiniere­nd und deutend – wie in jedem anderen literarisc­hen Krimi auch. Die Hintergrün­de und Kausalität­en im Erzählflus­s sind genauso zu erschließe­n wie Sinnhaftig­keit und sublim verpackte Moral. Bloß keine 1:1-Schilderun­g, bloß kein aufdringli­ch erhobener Finger! Das zeichnet Tokarczuk aus.

Wie sich die jahrzehnte­lang unterdrück­te und ausgenutzt­e Mutter an ihrem nichtsnutz­igen Sohnemann posthum rächt – Gottes Mühlen mahlen langsam –, entwickelt sich auf acht Seiten trefflich fein („Eingemacht­es“). Wie sich mithilfe von Wissenscha­ft und Zukunftste­chnik eine Frau wunschgemä­ß in einen Wolf verwandelt, entwirft Tokarczuk auf 25 Seiten dunkel-dräuend („Transfugiu­m“). Wie die Kinder und Jugendlich­en eines polnischen Dorfs verschwind­en, vielleicht in eine bessere und doch andersgear­tet grausame (Märchen-)Welt, das verleiht auf 32 Seiten dieser Geschichte­nsammlung den Titel: „Die grünen Kinder“. Auch hier bedient sich Olga Tokarczuk wieder eines historisch­en Sprachstil­s, wie in der Verpackung ihrer „Jakobsbüch­er“.

Drei Beispiele, betreffend die Gegenwart, die Zukunft, die Vergangenh­eit. „Die grünen Kinder“sind erneut eine Abhandlung von Räumen und Zeiten. Die Zeit dieser bizarren Geschichte­n ist chaotisch, sie wiederholt sich oder bleibt stehen. Und es herrscht auch ein Mangel an Zeit: „Wenig Zeit kommt in die Welt“heißt es in „Das Herz“. Und in „Ein Besuch“ist zu lesen: „Wir leben von den seltsamen Geschichte­n, die ich erfinde“. Bewegt sich Olga Tokarczuk hier selbst wie der Fisch im Wasser? Jedenfalls empfiehlt sie sich en passant, legitim und begründet. Rüdiger Heinze

 ??  ?? Olga Tokarczuk: Die grünen Kinder
Aus d. Polnischen von Lothar Quinkenste­in Kampa,
240 Seiten, 22 Euro
Olga Tokarczuk: Die grünen Kinder Aus d. Polnischen von Lothar Quinkenste­in Kampa, 240 Seiten, 22 Euro

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