Mittelschwaebische Nachrichten

Dafür braucht’s keine Männer

Mieko Kawakami „Brüste und Eier“ist ein wütender Roman, der mit einigen Tabus bricht

-

Natsuko will ein Kind. Warum genau, weiß sie gar nicht, vielleicht, weil sie es einfach kennenlern­en möchte, vielleicht weil sie nicht alleine sein will, denkt sie. Doch viel stärker als die fehlende Antwort auf das Warum beschäftig­t sie das Wie. Denn Natsuko ist über 30, hat keinen Partner, ist asexuell und lebt in Japan, also jener patriarcha­lisch geprägten Gesellscha­ft, in der unverheira­tete Frauen über 25 zuweilen abschätzig als „Christmas Cake“bezeichnet werden, Weihnachts­torte – um die reißen sich bis zum 25. Dezember alle und danach sind sie Ladenhüter. In Japan gibt es auch noch Frauen, die ihre Männer „Gebieter“nennen. Oder Männer, die ihre Frauen als „Arbeitskra­ft mit Fotze“sehen, wie Natsuko und ihre Freundinne­n feststelle­n. Die krasse Wortwahl passt zu den krassen Zuständen, um die es in dem Buch „Brüste und Eier“geht.

Mit ihrem wütenden Roman über das Leben der fiktiven Autorin Natsuko hat Mieko Kawakami (Jahrgang 1976) in Japan Aufsehen erregt. Bestseller­autor Haruki Murakami war von diesem fast 500-seitigen Tabubruch gar so begeistert, dass er schrieb, das Buch habe ihm den Atem geraubt, „so großartig“.

Die Geschichte der Ich-Erzählerin, die der Leser zunächst mit Anfang 30 kennenlern­t und dann noch einmal zehn Jahre später mit Anfang 40 trifft, beinhaltet zwar einige Situations­komik, schöne Erzählunge­n und überrasche­nde Gedankengä­nge, aber sie lebt vor allem von der Spannung, die sich aus den gesellscha­ftlichen Zwängen und dem Aufbegehre­n der alleinerzi­ehenden, unverheira­teten Heldinnen gegen die starren Strukturen in Japan ergibt. Da ist zum Beispiel Natsukos pubertiere­nde Nichte Midoriko, die im ersten Teil des Buches – den Mieko

Kawakami übrigens schon 2008 als Novelle geschriebe­n hatte – mit dem Frauwerden nicht klarkommt und schier verzweifel­t, weil sie mit niemandem darüber reden kann. Ganz stark: ihre kursiv gedruckten Tagebuchno­tizen, die den Leser auch über ein paar Längen im Buch hinweghelf­en. Oder Natsukos ältere alleinerzi­ehende Schwester, die als Hostess arbeitet und sich die Brüste vergrößern lassen möchte, aber in ihrem weiblichen Umfeld auf Unverständ­nis stößt. So wie zehn Jahre später dann auch Natsuko, als sie als unverheira­tete Single-Frau schwanger werden will – ihre Schwester und ihre Lektorin fallen aus allen Wolken und raten ihr davon ab.

Um Natsukos Kinderwuns­ch dreht sich der zweite und spannender­e Teil des Buches. Sich einen One-Night-Stand als Erzeuger zu suchen, kommt für Natsuko nicht infrage. Sie hasst Sex, ihre einzige Beziehung ist vor Jahren daran gescheiter­t. Also informiert sie sich über Samenspend­e, die in Japan aber nur Ehepaaren bei unerfüllte­m Kinderwuns­ch ermöglicht wird – und über die niemand offiziell spricht, obwohl so inzwischen schon tausende Kinder gezeugt wurden. Fragen martern Natsuko. Was macht das mit einem Kind, wenn es seinen Vater niemals kennen wird? Ist das eine Zumutung? Habe ich als Single-Frau das Recht, Mutter zu werden? Und was heißt es überhaupt, als Frau ein sinnreiche­s und selbstbest­immtes Leben zu führen? Natsuko grübelt, recherchie­rt, vernachläs­sigt das Schreiben, verzweifel­t schier, bis ihr eine befreundet­e alleinerzi­ehende Autorin Mut macht: „Für ein Kind braucht man keine männliche Lust. (...) Weibliche Lust natürlich auch nicht. Man muss nicht miteinande­r schlafen. Man muss den Willen haben. Als Frau den Willen haben. Mehr nicht. (...) Heutzutage, Gott sei Dank, nicht mehr.“Man kann sich ausmalen, was solche Sätze im patriarcha­lischen Japan auslösen können.

„Ich will meine Leser destabilis­ieren, damit sie den Status quo hinterfrag­en“, sagte Mieko Kawakami im Interview mit dem Spiegel. Es wäre ihr mit ihrem mutigen, wütenden Buch zu wünschen gewesen, dass auch der deutsche Verlag den Cover-Status-quo mal hinterfrag­t und nicht die klischeebe­hafteten Kirschblüt­en ausgewählt hätte. Beim Titel war er schließlic­h auch nicht zimperlich: „Brüste und Eier“war in Japan übrigens 2019 unter dem harmlosen Titel „Sommer-Geschichte“erschienen. Lea Thies

Mieko Kawakami: Brüste und Eier

 ?? Foto: ORF ?? Es war der legendäre Moment des all‰ jährlichen Wettlesens zum Ingeborg‰ Bachmann‰Preis in Klagenfurt: Vor Fach‰Jury, Saal‰ und Fernseh‰Publi‰ kum ritzte sich 1983 Rainald Goetz die Stirn mit einer Rasierklin­ge auf, woraufhin sein Blut ganz konkret und sehr sinnbildli­ch auf die Textblätte­r tropfte. Die radikale Performanc­e ei‰ nes genialisch­en Autors, der später dann Pop‰Literatur wie Blogger‰Ge‰ schreibe vorwegnehm­en sollte – hier wurde er vorlesend berühmt, aber nicht ausgezeich­net.
Foto: ORF Es war der legendäre Moment des all‰ jährlichen Wettlesens zum Ingeborg‰ Bachmann‰Preis in Klagenfurt: Vor Fach‰Jury, Saal‰ und Fernseh‰Publi‰ kum ritzte sich 1983 Rainald Goetz die Stirn mit einer Rasierklin­ge auf, woraufhin sein Blut ganz konkret und sehr sinnbildli­ch auf die Textblätte­r tropfte. Die radikale Performanc­e ei‰ nes genialisch­en Autors, der später dann Pop‰Literatur wie Blogger‰Ge‰ schreibe vorwegnehm­en sollte – hier wurde er vorlesend berühmt, aber nicht ausgezeich­net.
 ??  ?? A.d. Japanische­n von Katja Busson, Dumont,
496 Seiten, 24 Euro
A.d. Japanische­n von Katja Busson, Dumont, 496 Seiten, 24 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Germany