Mittelschwaebische Nachrichten
Künftige Piloten sollen von der Schule fliegen
Wer es ins Cockpit einer Lufthansa-Maschine schafft, hat das große Los gezogen: krisensichere Stelle, Top-Bezahlung, hohes Ansehen. So war das bisher. Jetzt will der Konzern wegen der Corona-Krise seine Flugschüler loswerden. Die verstehen die Welt nicht mehr
Sein erstes Pixi-Buch hieß „Ich habe einen Freund, der ist Pilot“. Wenn er mit seinen Eltern in den Urlaub startete, war ihm das Ziel ziemlich egal, Hauptsache es wurde mit einem Flugzeug erreicht. In der Schule, im Gymnasium, wurde ihm von Jahr zu Jahr immer klarer, dass er nur einen Berufswunsch hatte: Pilot zu werden. Pilot bei der Lufthansa.
Davon träumen viele. Für den jungen Allgäuer sah lange alles danach aus, als würde aus diesem Traum auch Wirklichkeit werden. Nun, ganz knapp vor dem großen Ziel, scheint sich dieser Traum für ihn und hunderte weitere Frauen und Männer schneller aufzulösen als ein Kondensstreifen am Himmel.
Die Lufthansa ist in Existenznot geraten. Nur ein milliardenschweres staatliches Rettungspaket hat eine Insolvenz verhindert. Rund 650 000 Kunden warten noch immer darauf, ihre stornierten Tickets erstattet zu bekommen. Der internationale Luftverkehr hat sich vom coronabedingten Zusammenbruch längst nicht erholt.
Das Unternehmen will nun seine Flotte von 760 Flugzeugen deutlich verkleinern, um mindestens 100 Maschinen, wie es heißt. Bedeutet: Der Konzern benötigt weniger Piloten. Etwa 900 seien derzeit zu viel an Bord, sagte Vorstandschef Carsten Spohr im Sommer. Ende September gipfelte das Drama in der Mitteilung, die Lufthansa und ihre Tochtergesellschaften würden auf Jahre hinaus keinen Bedarf an neuen Piloten haben. Und: Die derzeit 700 Flugschüler sollten am besten ihre Ausbildung abbrechen.
700 junge Leute verstehen seitdem die Welt nicht mehr. War es denn nicht immer so: Wer es in die legendäre, 1956 gegründete Flugschule der Lufthansa nach Bremen und anschließend ins Cockpit eines Verkehrsflugzeugs schafft, hat das große Los gezogen – krisensichere Stelle, Top-Bezahlung, hohes Ansehen, gepaart mit einem ausgeprägten Korpsgeist unter den Kollegen. Konzernchef Spohr wurde selbst in Bremen zum Piloten ausgebildet. Jetzt soll der komplette Nachwuchs mitten in der Ausbildung in die Wüste geschickt werden?
Der junge Mann aus dem Allgäu ist einer der Betroffenen. Ein selbstbewusster Mensch, der für sich und seine Meinung eintritt. Doch die „Vereinigung Cockpit“, der Berufsverband der Piloten in Deutschland, hat allen, denen es derzeit wie ihm ergeht, vorsorglich dazu geraten, nicht mit ihren richtigen Namen an die Öffentlichkeit zu gehen.
Die Sorge geht um, der Lufthansa einen Grund zu liefern, arbeitsrechtlich gegen Leute vorzugehen, die sie ohnehin nicht mehr beschäftigen will. Also erzählen wir die Geschichte des Beinahe-Piloten unter dem Namen Markus.
Markus kann sich nicht daran erinnern, dass er jemals etwas anderes als Pilot werden wollte. Nach dem Abitur fängt er mit dem Segelfliegen an und bewirbt sich im Internet auf der Plattform der Lufthansa-Flugschule in Bremen, der „European Flight Academy“(EFA).
Die gilt weltweit als eine der ersten und besten Adressen, wenn es um die Ausbildung des PilotenNachwuchses geht – wenngleich sie Ende 2019 in die Schlagzeilen geriet, als das Süddeutsche Zeitung Magazin von diskriminierenden und demütigenden Aufnahmebräuchen berichtete. Die EFA, so heißt es in der Eigenwerbung, sei der „beste Weg zum Pilotenberuf“und stehe für „höchste Qualität“.
Das weiß auch Markus – und macht Luftsprünge, als er für ein erstes, eintägiges Auswahlverfahren nach Hamburg eingeladen wird. Dort geht es um Dinge wie physikalisches Grundverständnis, logisches Denken, ein Merktest muss absolviert werden. Nach gut zwei Wochen die Nachricht: Markus hat bestanden, er darf zur sogenannten Gruppenqualifikation für weitere zwei Tage wieder nach Hamburg kommen. Jetzt gilt es unter anderem, in Rollenspielen und Streitgesprächen Stressresistenz und Multitasking-Fähigkeiten zu beweisen. Markus kommt durch.
Es folgt das, was keiner der Bewerber so richtig einschätzen, worauf man sich auch mit Pauken nicht vorbereiten kann: ein Interview mit einem Psychologen und einem Flugkapitän. Gleich nach dem Gespräch erfährt jeder, ob er bestanden hat oder nicht. Zu Markus sagen die beiden: „Glückwunsch, Sie haben es uns leicht gemacht.“Markus ruft sofort seine Eltern an, die mit ihm nach Hamburg gekommen sind, und hört am anderen Ende der Leitung deren Jubel – geschafft.
Los geht es dann nach einem gründlichen medizinischen Check Ende 2018. In Markus’ Gruppe sind insgesamt 28 Flugschüler. Er nimmt sich zusammen mit einem Mitschüler eine kleine Wohnung in Bremen. Für Freizeitaktivitäten bleibt wenig Zeit. Gut ein Jahr wird Theorie gebüffelt, von Mathematik über Meteorologie bis hin zu Grundlagen der Navigation.
Zwischendurch gilt es immer wieder Tests zu bestehen, dann gibt es die „ganz große Prüfung“, wie Markus das nennt, beim Luftfahrtbundesamt. Drei Tage lang wird „alles abgefragt, was wir die letzten zwölf Monate gebüffelt haben“. Markus, der vor Prüfungen nervös ist, aber wenn es ernst wird, die Ruhe selbst, nimmt auch diese Hürde. Jetzt kann die Praxis kommen.
Markus fliegt in die USA, nach Arizona. Dort, in Goodyear, hat die Lufthansa einen eigenen Campus, 30 Propellerflieger „vom Feinsten“stehen den „Flight-Teams“aus jeweils vier Flugschülern zur Verfügung. Markus ist in Amerika gelandet, weil er sich für den Kurs für die „Multicrew Pilot License“beworben hat. Die Ausbildung dort ist von
Anfang an auf das Fliegen in einem Zwei-Personen-Cockpit ausgerichtet – und führt in guten, also normalen Zeiten, in ein Cockpit der Kernmarke Lufthansa.
Daneben gibt es an der Bremer Flugschule noch die Kurse der „Airline Transport Pilot License“. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst beim Fliegen in einem Ein-Personen-Cockpit, danach folgt ein Arbeitsplatz in einer der anderen Konzerngesellschaften, etwa bei Eurowings. Die Schulung findet nicht in Arizona, sondern auf Propellermaschinen in Rostock statt.
Markus ist seinem Ziel, Lufthansa-Pilot zu werden, so nahe wie nie zuvor. Insgesamt sind vier Monate für diesen Ausbildungsabschnitt vorgesehen. Nach 15 Ausbildungsflügen, die jeweils eineinhalb Stunden dauern, das erste Solo: Noch mit dem Fluglehrer an Bord muss Markus zu einem für ihn bis dahin unbekannten Flughafen fliegen, dann dort die ersten drei Flugplatzrunden ganz allein im Cockpit drehen. „Irre“, erzählt Markus. Noch heute bekommt er eine Gänsehaut.
Dann, am 16. März, erreicht die Flugschüler mitten in der Nacht eine E-Mail. Wegen Corona und bevor alles dichtgemacht wird, müssen sie umgehend heimreisen, die Flugtickets sind angehängt, die ersten
Rückflüge nach Deutschland starten schon um sieben Uhr morgens. „Anfangs haben wir damit gerechnet, dass es in zwei, drei Monaten weitergehen wird“, sagt Markus. Zunächst kommt die Info, dass die Praxisausbildung bis 31. August ausgesetzt wird, dann Anfang August die Nachricht, dass sich bis Jahresende nichts mehr tun wird.
Markus und seine Mitschüler bewahren sich ihren Grundoptimismus. Bis zum 29. September, „unserem Albtraumtag“.
An jenem Dienstag empfiehlt die Flugschule Bremen den 700 Schülern per Videokonferenz, ihre Ausbildung abzubrechen. Sie würden, so die Begründung, über viele Jahre hinaus einfach nicht gebraucht. Die angebotenen Alternativen, sagt Markus, empfinden sie als Wahl zwischen Pest und Cholera – was ein weiterer Schüler, der aus Bayern kommt, im Gespräch mit unserer Redaktion bestätigt.
Der Betreiber, das Lufthansa Aviation Training (LAT), lässt seine Schüler nämlich wissen: Wer seine Ausbildung beenden will, kann dies tun. Doch wer dann innerhalb von fünf Jahren keinen Job im Konzern gefunden hat, müsse die gesamten Ausbildungskosten – für die die Lufthansa in Vorleistung gegangen ist – auf einen Schlag zurückzahlen, statt sie später über viele Jahre hinweg vom Gehalt abgezogen zu bekommen. In Markus’ Fall sind das immerhin 80 000 Euro.
Wer dagegen aus den Ausbildungsverträgen aussteige, könne dies kostenlos, sprich ohne finanzielle Verpflichtungen tun, so das LAT. Und die etwa 170 jungen Frauen und Männer, die kurz vor der Abschlussprüfung stehen, werde man auch noch selbst ausbilden. Eigens dafür soll die Schule Anfang kommenden Jahres noch einmal geöffnet werden.
Wie es überhaupt mit der Einrichtung weitergeht, ist unklar. Die etwa 150 Beschäftigten befinden sich in Kurzarbeit. Die Schule hat noch einen zweiten Großkunden: die Bundeswehr. Sie lässt in Bremen Piloten für die zivile Flugbereitschaft der Bundesregierung, für Transportflugzeuge wie den Airbus A400M, aber auch für das Steuern von Drohnen ausbilden. Zudem nutzt unter anderem die japanische All Nippon Airways (ANA) für ihre künftigen Piloten die Dienste der Flugschule.
Der Chef der Personalvertretung, Peter-Helmut Hahn, sagt: „Wir könnten überleben mit Bundeswehr und ANA.“Problem ist allerdings: Nicht nur die European Flight Academy der Lufthansa, sondern auch die Bundeswehr verhandelt über ein billigeres Ausbildungsmodell mit einem kleineren Flugzeug in RostockLaage. Schon im November, so wird gemunkelt, könnte sich die Zukunft der Schule entscheiden.
Und was wird aus den Flugschülern? Für Markus kommt erschwerend hinzu, dass er den ersten Block an praktischer Flugausbildung noch nicht abgeschlossen hat. Ihm und seinen Mitschülern wird nun zweierlei angeboten: „Entweder freiwillig aufhören, dann müssen wir
Ein Flugschüler aus dem Allgäu packt aus
Er sagt: Freiwillig beerdige ich meinen Traum nicht
nichts zurückzahlen“, sagt Markus. Oder man könne an einer externen Flugschule weitermachen, womit man aber den Status eines Lufthansa-Flugschülers verliere und später auch niemals wieder für den Konzern arbeiten dürfe. „Praktisch“, sagt Markus, „heißt das, dass wir eigentlich keine Chance mehr haben würden, jemals irgendwo einen Cockpit-Platz zu bekommen.“
In einem Cockpit ist Markus seit dem Rückruf aus Arizona im Frühjahr nicht mehr gesessen. Stattdessen jobbt er wieder in einer Firma, für die er schon früher als Schüler in den Ferien gearbeitet hat. Elektronik-Komponenten überprüfen statt Hightech-Elektronik bedienen, Tag für Tag, Woche für Woche. Nicht übermäßig anspruchsvoll, aber immerhin. „Ich bin dankbar, dass ich da wieder untergekommen bin. In Zeiten von Corona war das nicht selbstverständlich“, sagt er.
Seine Piloten-Ausbildung hinschmeißen – da ist sich Markus sicher – wird er nicht. Er hofft, dass sich Lufthansa-Chef Spohr noch umstimmen lässt. Der sei Anfang der 90er Jahre als Flugschüler in Bremen schließlich selbst von einer damals gerade noch verhinderten Schließung bedroht gewesen.
Markus kann nun nichts anderes tun als warten. Warten und hoffen. „Freiwillig“, sagt er, „freiwillig werde ich meinen Traum nicht beerdigen.“