Mittelschwaebische Nachrichten

Sie holen den Berblinger‰Geist in die Gegenwart

Filmaufnah­men In einem bunten, poppigen Musical spinnt ein Kreativ-Team die Geschichte des Schneiders von Ulm weiter. Ein Stück über das Fliegen, den Mut und das Scheitern – und einen Psychiater, der plötzlich seine weibliche Seite entdeckt

- VON VERONIKA LINTNER

Ulm Das Filmteam, das sich unter dem Berblinger-Turm am Donauufer versammelt, will zwei Gefühle mit der Kamera einfangen: den Traum vom Fliegen – und den Sturz ins Unglück. Ohne Netz und doppelten Boden. So wie einst der Flugpionie­r Albrecht Ludwig Berblinger, der hier 1811 seine Flügel aufspannte und in den Fluss plumpste. Einen Stuntman braucht die Crew dafür nicht: Eine kleine Drohne schwingt sich in die Luft, kreist elegant um den Turmbau, den die Stadt dem Schneider von Ulm gewidmet hat. Was die Kamera-Drohne einfängt, gibt sie nach der Landung preis: Die halbe Crew schart sich um einen Bildschirm und sieht – bezaubernd­e Aufnahmen, im Vogelflug. Die Videos, die das Team filmt, werden bald im Ulmer Roxy auf der Leinwand flimmern. Sie ergänzen die bunte Musik-Show, die sich dann auf der Bühne abspielen soll. Das Musical „Ich bin ein Berblinger“soll im Januar 2021 Premiere feiern. Der Vorverkauf hat begonnen.

Berblinger ist ein Ulmer Held – aber das Kreativtea­m hinter dem Musical ist erstaunlic­h bayerisch: Der Komponist Hermann Skibbe stammt aus Burgau, sein Kollege Helmut Pusch lebt in Senden, Albert Hefele aus Elchingen hat die Texte verfasst. Die Grundidee hat dieses Team entwickelt, mit Christof Biermann und Regisseur Thomas Dietrich. 2011 starteten die kreativen Köpfe den ersten Anlauf, 200 Jahre nach der berühmten Bruchlandu­ng. Aber das Projekt Berblinger-Musical strauchelt­e, scheiterte – auch weil das Team noch nicht die volle Unterstütz­ung der Stadt hatte. Aber 2020 sollte die Zeit reif sein, zum 250. Geburtstag des Berlingers. Den Entholte die Crew aus der Schublade – und beinahe wäre er wieder darin verschwund­en. Das Team hatte die Stadt längst auf seiner Seite, mit Zuschüssen von 90000 Euro, es gründete als Basis für das Projekt den Verein „Patchwork Kultur“– dann brach Corona herein. Im Juni schien eine Aufführung in der OriginalVe­rsion undenkbar. Die Macher mussten das Werk überarbeit­en.

Heute ist sich Helmut Pusch sicher: Zum dritten Mal das Projekt verschiebe­n? Kommt nicht in Frage. „Statt mit 13 Darsteller­n spielen wir nun mit acht“, erklärt er. Und es wird digital: Videos erscheinen auf LED-Wänden, die Musik kommt bis auf den Live-Gesang der Darsteller vom Band. „Mit sieben Musikern ist die Bühne sonst voll.“

müssen Corona nicht nur berücksich­tigen, sondern auch ins Musical einbauen“, erklärt Thomas Dietrich. Corona-Anspielung­en haben sich in den Plot geschliche­n und in der Notlage sind auch neue Ideen entstanden – mit Vorteilen. „Für die Originalfa­ssung hätten wir sonst ein Modell des Berblinger-Turms nachbauen müssen und eine Showtreppe für das Roxy“, sagt Dietrich.

Wer an Berblinger denkt und ein historisch­es Kostüm-Stück erwartet, wird eine Überraschu­ng erleben. Pusch erklärt: „Wir holen sein Erbe ins Heute. Es geht um einen Nachfahren des Berblinger­s, der im Hier und Jetzt lebt und sein ganzes Leben lang gemobbt wird.“Berblinger­s Image, der ewige „Loser“, wirkt auf den Held wie ein Fluch. Deshalb bewurf müht er sich, seinen gescheiter­ten Urahn zu rehabiliti­eren. Doch er übernimmt sich, finanziell und seelisch: Der junge Mann landet in einer psychiatri­schen Anstalt. Helmut Pusch sucht nach Vergleiche­n: Das Stück habe durchaus Züge von „Einer flog über das Kuckucksne­st“, dem Hollywood-Psychostre­ifen mit Jack Nicholson. Aber auch Liebe und Romantik sollen eine Rolle spielen.

„Ein Berblinger-Musical für Erwachsene, das gab es noch nie“, sagt Pusch. Bert Brecht schrieb ein Gedicht über die Fluglegend­e aus Ulm, Max Eyth widmete dem Pionier einen Roman. Und unter Eyths Denkmal am Donauufer rekelt sich jetzt ein Mann – im glitzernde­n DragQueen-Kostüm. Es ist die schillernd­ste Figur der Story, der korrup„Wir te Psychiater namens Rollinger, der in dieser Filmszene – eine Traumseque­nz – seine weibliche Seite entdeckt. Und wie. Der Song „Ich bin ich“klingt aus den Boxen. Gehüllt in ein Glitzerkle­id, mit voluminöse­r Diven-Perücke, bewegt der Darsteller Brix Schaumburg im Play-back zur Melodie die Lippen. Die Kostümbild­nerin Sybille Gänßlen hat die Kluft für den Psychiater und alle weiteren Figuren geschneide­rt.

Der Clou: Schaumburg spielt gerade in der Web-Serie „Sunny – Wer bist du wirklich?“einen Transsexue­llen – und er selbst ist im wahren Leben Transgende­r. Er wurde in einem weiblichen Körper geboren. „Ich bin ich“sei der erste Transgende­r-Musical Song überhaupt, vermutet Schaumburg – eine Pionierlei­stung, die für ihn zum Berblinger­Geist passt und ihm auch musikalisc­h Laune macht. „Das ist kein MusicalLal­a“, sagt er. Sascha Lien spielt wiederum den Held des Musicals. In Ulm war er schon im Musical „Rock of Ages“zu sehen, in Köln im Queen-Stück „We Will Rock You“.

Skibbe und Pusch bauen auf Vielfalt in der Musik: Ein Streichqua­rtett begleitet eine Ballade, auch die Ulmer Spatzen wirken mit. Ein Popmusik-Musical soll es sein, mit Discound Jazzeinflü­ssen. Pusch verspricht dem Publikum zwei, drei Ohrwürmer, mindestens.

Wie steht das Team nun selbst zum Scheitern, nach all den Jahren und Anläufen? „Wir sind Profis im Scheitern“, sagt Pusch und lächelt. Skibbe hält dagegen: „Stimmt, aber wirklich scheitern werden wir mit diesem Projekt sicher nicht.“

Premiere Das erste Mal ausgestrah­lt wird der Film am 5. Januar, 2021. Kar‰ ten gibt es im Vorverkauf (Roxy, eventim), Infos unter berblinger.club.

 ?? Foto: Veronika Lintner ?? Sascha Lien (ganz links) übernimmt nicht nur die Rolle der Hauptfigur, sondern spontan auch die des Kameramann­s. Hier filmt er Brix Schaumburg (ganz rechts). Der Darsteller schlüpft in ein Drag‰Kostüm als Psychiater Rollinger. Dahinter: Regisseur Thomas Dietrich (2. von rechts) und der Komponist Hermann Skibbe.
Foto: Veronika Lintner Sascha Lien (ganz links) übernimmt nicht nur die Rolle der Hauptfigur, sondern spontan auch die des Kameramann­s. Hier filmt er Brix Schaumburg (ganz rechts). Der Darsteller schlüpft in ein Drag‰Kostüm als Psychiater Rollinger. Dahinter: Regisseur Thomas Dietrich (2. von rechts) und der Komponist Hermann Skibbe.

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