Mittelschwaebische Nachrichten
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (85)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli giösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Den Vatikan habe ich nur ins Spiel gebracht, damit er sein Gesicht wahren und so tun kann, als hätte er nichts von einer geheimen Mission des Kardinals gewusst.“
Barudi konnte sich nicht bremsen und küsste Mancini auf die Stirn. „Gesegnet sei die Milch deiner Mutter. Sie hat ihren Zweck erfüllt“, sagte er.
Mancini lachte Tränen.
Zu später Stunde kehrten sie in die Pension zurück. Mancini erzählte Barudi bei einem guten trockenen Wein, den ihnen die Wirtin besorgt hatte, dass es in Europa und vor allem in Italien mehrere Kirchen gab, die den Kot des Esels verehrten, auf dem Jesus am Palmsonntag angeblich in Jerusalem eingezogen ist. Andere Kirchen behaupteten, sie würden die einzige Reliquie vom Körper Jesu Christi bewahren: seine Vorhaut. Als jüdisches Kind wurde er ja beschnitten. Da Jesus wegen seiner Himmelfahrt keine Knochen oder Haare zurückgelassen hat, wurde seine Vorhaut zum Heiligtum
erklärt. Jahrhundertelang schrieb man ihr eine magische Wirkung während Schwangerschaft und Geburt zu. Heute schweigt die katholische Kirche dazu.
An anderen Orten bewahrten die Leute kleine Fläschchen mit der Milch der heiligen Maria auf. Die zwei Kommissare lachten so laut, dass ihr Nachbar in der Pension gegen die Wand hämmerte.
Am nächsten Morgen erwachte Mancini erst um zehn Uhr. Er hatte bis drei Uhr morgens gearbeitet. Trotz Wein und Lachen mit Barudi hatte ihn das Gespräch mit dem Vatikanbotschafter so aufgewühlt, dass er nicht schlafen konnte.
Barudi hatte bereits mit Nariman telefoniert und auch mit seinem Chef und seinen Assistenten gesprochen.
Bei einer Tasse Kaffee besprachen sie die Route und verstauten danach alle wichtigen Dinge in einem Geheimfach, das Barudi schon vor Jahren unter dem Rücksitz seines Wagens hatte einbauen lassen.
Es war aus Stahlblech und konnte nur durch einen unauffälligen Hebel unter der Motorhaube geöffnet werden. Die Laptops, Barudis noch fast leeres neues Tagebuch, alle wichtigen Papiere bis auf Barudis Dienstausweis und Mancinis Presseausweis und die Kamera fanden darin Platz.
„Und deine Pistole?“, fragte Mancini.
„Die unterstreicht meine Behauptung, dass ich ein Kriminalpolizist bin, der mit Politik und Glauben nichts zu tun hat.“
Sie schlenderten durch die kleine Stadt. Kurz nach zwölf klingelte Mancinis Handy.
„Buongiorno, Eccellenza“, sagte er, und nach einer Weile zwinkerte er Barudi zu und hob den Daumen seiner rechten Hand gen Himmel. „Come? Un attimo.“
Barudi blieb in seiner Nähe, verstand aber außer den Namen, die Mancini wiederholte, nichts.
Dann jedoch wurde Mancinis Stimme brüchig, er wirkte sehr bewegt, schien den Tränen nahe. Unwillkürlich legte Barudi seinem Kollegen die Hand auf die Schulter.
Schließlich bedankte sich Mancini beim Botschafter und beendete das Gespräch. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Barudi ließ Mancini Zeit.
„Barudi, dein Einfall war genial“, sagte dieser nach einer Weile. „Der
Kardinal war auf einer geheimen Mission unterwegs. Sein Erzfeind in Rom ist Kardinal Buri. Dieser unterhält enge Beziehungen zur italienischen Mafia, das vermuten alle, aber niemand weiß Genaueres. Ein Journalist hat vor etwa einem Jahr eine Verbindung zwischen der italienischen Mafia, dem Vatikan und den Drogenbaronen in Nordsyrien aufgedeckt. Er hat offen gefragt, ob der Buri-Clan mit dem Drogenhandel hier zu tun habe. Einen Tag später war er tot. Der Kardinal wollte, getarnt durch die offizielle Mission, in den Norden fahren, um vor Ort zu erfahren, wie weit Kardinal Buri in die Zusammenarbeit zwischen seinem Clan und der italienischen Mafia verwickelt ist. Der arme Pater José hatte damit nichts zu tun und musste doch sein Leben lassen.“
Sie sprachen noch eine ganze Weile miteinander, trösteten sich gegenseitig und schworen sich, alles zu tun, um die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Schwur, der ihnen eine fast kindliche Hoffnung gab.
„Moment mal“, sagte Barudi plötzlich, weil ihm etwas eingefallen war. „Ich muss alles über diesen Clan wissen, bevor wir auch nur ein Wort mit einem seiner Mitglieder wechseln“, sagte er und rief unverzüglich seinen Assistenten Ali an.
„Na, hast du mich schon vermisst?“, fragte er, und Mancini lachte. Er wusste, dass der arme Assistent noch mit der Beobachtung der Familie und der Anhänger der Heilerin Dumia beschäftigt war. „Hör zu“, sagte Barudi, „ich wollte dich nicht hetzen, aber wir benötigen dringend einen Bericht über die Familie Buri… Was?… Ja, der Clan, und zwar nur über die Familie des Kardinals Buri. Wir sind auf neue Informationen gestoßen, die den Clan in den Mittelpunkt unserer Ermittlungen rücken… Wie?… Wer ist Abdullah?… Ach so! Na, gut, dann soll er das für dich herausfinden, aber ich brauche den Bericht rasch… Wer ist hier ein Sklaventreiber? Du meinst doch nicht etwa Mancini? … Dann ist alles in Ordnung.“
Nach einem deftigen Essen in einem kleinen Restaurant stiegen sie ins Auto und fuhren auf der Autobahn Richtung Aleppo.
„Erzähl mir ein wenig über die Stadt Derkas“, sagte Mancini.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, erwiderte Barudi. „Sie liegt in einer gebirgigen Region, etwa vierzig Kilometer von Aleppo entfernt. Sie gehört zum Bezirk Idlib. Die ganze Region lebt vom Olivenöl. Die türkische Grenze ist nur achtzig Kilometer entfernt. Wir brauchen schätzungsweise drei Stunden, wenn wir nicht von islamistischen
Kämpfern aufgehalten werden.“Nach etwa zweieinhalb Stunden verließen sie die Autobahn und kamen auf eine gut ausgebaute Landstraße Richtung Westen. In der Ferne tauchten die Berge auf. So weit das Auge reichte, gab es Olivenhaine.
„Und ich dachte, Italien hätte die meisten Olivenbäume“, staunte Mancini.
„Klar, aber Syrien steht bei der Olivenölproduktion weltweit immerhin an sechster Stelle“, erwiderte Barudi, „und ich schätze das Olivenöl aus dieser Region besonders. Es schmeckt nach Erde, nach den Bergen und dem Mittelmeer, das Luftlinie nicht einmal siebzig Kilometer entfernt ist.“
Barudi und Mancini genossen den sonnigen Tag und die Landschaft. Nichts deutete auf Kontrollpunkte, Schlagbäume, Panzer oder Polizeipatrouillen hin. Doch plötzlich, hinter einer Kurve, stand ein schwarz gekleideter, vermummter Mann mitten auf der Straße. Seine Kalaschnikow vor sich hob er die Hand. Barudi bremste und hielt an. Noch bevor er das Fenster heruntergekurbelt hatte, war der Wagen auf allen Seiten von vermummten, bewaffneten Männern umzingelt.
„Was wollt ihr hier?“, fragte ein wie aus dem Nichts aufgetauchter Bärtiger. »86 Fortsetzung folgt