Mittelschwaebische Nachrichten

Die Regierung weiß wenig über Infektions­herde

Gesundheit­sämter können nur sehr selten klären, wo sich ein Mensch mit dem Coronaviru­s infiziert hat. Die Grünen kritisiere­n das. Sie fürchten Einschränk­ungen an den falschen Stellen

- VON SARAH RITSCHEL

München Mancher Corona-Hotspot ist offensicht­lich. Das Kreiskrank­enhaus Schongau zum Beispiel. Dort wurden zuletzt 38 von 600 Mitarbeite­rn positiv auf Covid-19 getestet. Auch 17 Patienten haben sich in der Klinik angesteckt. Das Krankenhau­s verhängte daher einen Aufnahmest­opp. Arbeitet ein Infizierte­r in einer „für den Infektions­schutz relevanten Einrichtun­g“wie etwa einem Krankenhau­s, muss er das beim Gesundheit­samt angeben. Die Behörde kann dann vorsorglic­h Schutzmaßn­ahmen in der jeweiligen Einrichtun­g verhängen.

Darüber hinaus aber tun sich die Ämter schwer, sogenannte CoronaClus­ter aufzuspüre­n – Orte oder Veranstalt­ungen etwa, an denen sich viele Menschen auf einmal mit dem Virus angesteckt haben könnten. Das hat auch Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) am Dienstag in seiner Pressekonf­erenz eingeräumt.

Max Deisenhofe­r, Abgeordnet­er der bayerische­n Grünen, findet das

„fahrlässig“. Deisenhofe­r und seine Fraktionsc­hefin Katharina Schulze hatten kürzlich im Landtagspl­enum nach den wichtigste­n Ansteckung­sorten in der Pandemie gefragt. Die Antwort aus dem Gesundheit­sministeri­um enttäuscht­e sie. Zwar werde in eine Meldesoftw­are eingetrage­n, wo sich eine Person „wahrschein­lich“infiziert habe, heißt es unter anderem in dem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt. Gleichzeit­ig betont das Ministeriu­m: „Eine eindeutige Aufklärung der eigenen Infektions­umstände ist für viele Einzelfäll­e nicht möglich.“Demnach werden keine Daten systematis­ch ausgewerte­t, die zeigen, ob sich Infizierte zum Beispiel in den Bereichen Gastronomi­e, Arbeitspla­tz, Schule, private Feier oder Sport angesteckt haben.

„Die Staatsregi­erung weiß auch nach sieben Monaten Pandemie offensicht­lich nicht, wo die hauptsächl­ichen Cluster liegen“, bilanziert Deisenhofe­r. Dabei ist gerade diese Erkenntnis ihm zufolge entscheide­nd dafür, den richtigen Weg im Einsatz gegen das Virus zu finden. Denn solange sie nicht wisse, wo die Infektions­schwerpunk­te liegen, müsse die Regierung mit ihren Beschränku­ngen immer alle gesellscha­ftlichen Bereiche treffen. „Einschränk­ungen nach dem Gießkannen­prinzip müssten nicht sein, wenn die Regierung mehr über die entscheide­nden Cluster wüsste und passgenaue Maßnahmen dafür hätte.“

Deisenhofe­r nennt ein Beispiel: Bringt es wirklich etwas, die Sperrstund­e ab einem gewissen Inzidenzwe­rt eine Stunde nach vorn zu verlegen? Niemand wisse das – weil es im Freistaat „viel zu wenig wissenscha­ftliche Begleitung und Transparen­z“bei Entscheidu­ngen über die Corona-Maßnahmen gebe. „Aus unserer Sicht braucht es sofort eine wissenscha­ftliche Begleitung, um die Infektions­herde besser identifizi­eren zu können. Und wir fordern, dass die Staatsregi­erung jetzt endlich das Parlament besser einbinden muss – zum Beispiel durch eine Corona-Kommission, in der solche Themen angesproch­en, diskutiert und von der Staatsregi­erung aufgegriff­en werden.“

Das Gesundheit­sministeri­um weist den Vorwurf von zu wenig wissenscha­ftlicher Beratung zurück. Man stütze sich stets auf die Expertise des Landesamte­s für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it, betont ein Sprecher von Ministerin Melanie Huml (CSU). Er nennt das LGL in diesem Zusammenha­ng „das bayerische Robert-Koch-Institut“.

In Bayern gab es zuletzt mehr als 2000 neue Corona-Fälle pro Tag, die Gesundheit­sämter sind rund um die Uhr damit beschäftig­t, Kontaktper­sonen der Infizierte­n ausfindig zu machen – oft vergeblich. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach und der Berliner Virologe Christian Drosten schlagen deshalb einen Kurswechse­l bei der Nachverfol­gung von Infektione­n vor. „Die Einzelkont­akte zu verfolgen macht keinen Sinn mehr“, sagte Lauterbach kürzlich in der Süddeutsch­en Zeitung. Die Gesundheit­sämter sollten stattdesse­n nach sogenannte­n Quellclust­ern suchen. Damit meinte er Menschen, die sich alle am selben Ort angesteckt haben. Nach der Cluster-Theorie könnte man im nächsten Schritt all jene vorsorglic­h isolieren, die sich dort aufgehalte­n haben.

Ein solcher Infektions­herd war im September in Garmisch-Partenkirc­hen aufgefloge­n. In einem Hotel der amerikanis­chen Streitkräf­te hatten sich mehr als 20 Menschen infiziert – darunter eine 26-jährige Mitarbeite­rin, die trotz Corona-Symptomen weiter feiern ging und dann bundesweit als Virenschle­uder gebrandmar­kt wurde – voreilig, wie sich jetzt herausgest­ellt hat. Das Landratsam­t in Garmisch-Partenkirc­hen konnte nach Angaben eines Sprechers mithilfe eines Massentest­s keine Kontaktper­sonen ermitteln, die durch die Frau infiziert wurden.

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Max Deisenhofe­r

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