Mittelschwaebische Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (88)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

Er strich über Scharifs schönen Kopf wie ein Vater, der seinen verlorenen Sohn wiedergefu­nden hat.

„Was ist mit dir passiert, was tust du?“, fragte er verwirrt, obwohl er eigentlich wissen wollte, wie Scharif zum Terroriste­n geworden war. Aber seine Worte schienen seine wirren Gedanken widerzuspi­egeln.

„Lasst uns erst noch zu Ende essen, dann erzählen wir einander alles, ja? Bitte“, erwiderte Scharif.

33. Der Werdegang eines Gotteskrie­gers

Nach dem Tee räumten die Männer den Tisch ab und schoben ihn an die eine Wand. Dafür brachten sie einen kleinen runden Bistrotisc­h und drei bequeme Stühle, auf denen Scharif und seine beiden Gäste Platz nahmen. Ruhe kehrte ein.

Scharif saß still und in sich versunken da.

„Erzähl mir von deinem Leben“, sagte Barudi, der das Schweigen kaum aushalten konnte.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, begann Scharif. „Die Zeit bei dir und Basma war ein Vorgeschma­ck auf das Paradies, in das ich einkehren werde, sollte ich tatsächlic­h als Märtyrer sterben. Aber danach habe ich die Hölle auf Erden erlebt. Der Halbbruder meines Vaters, ein erfolgreic­her Bauunterne­hmer, hat mich zwar offiziell adoptiert, aber ich war drei hasserfüll­ten Frauen und fünfundzwa­nzig gehässigen Kindern ausgeliefe­rt, an denen er selbst kaum Interesse hatte. Die Woche fängt in Saudi-Arabien am Samstag an. Die eine Frau nannte er Saso, weil er bei ihr am Samstag und Sonntag war, die zweite hieß Modi und die dritte Mido. Am Freitag wollte er niemanden ficken. Ich weiß nicht, wie viele Kinder er später insgesamt hatte. Sie haben den Hass ihrer Mütter auf mich gelenkt.

Als ich neunzehn wurde, habe ich mich grenzenlos in die Tochter eines Nachbarn verliebt. Sie hieß Dalia, und wir trafen uns heimlich. Immer in der Nacht, wenn die ganze Welt schlief. Ich stand damals vor der Abiturprüf­ung. Ich wollte Medizin studieren und, wie es uns Gott befohlen hat, den Armen dienen.

Eines Tages sah uns eine der Frauen meines Adoptivvat­ers. Dalia und ich erfuhren das erst nach Wochen, als es bereits zu spät war. Mein Adoptivvat­er wurde von seinen drei Frauen regelrecht dazu getrieben, Dalia als vierte Frau zu nehmen, was die Scharia ja erlaubt. Tag und Nacht erzählten sie, sogar vor uns Kindern, was für ein unersättli­cher Stier er sei und welche Entlastung sie sich durch die vierte Frau erhofften. Mein Adoptivvat­er führte sich auf wie ein eitler Gockel. Nach einiger Zeit ging er zum Nachbarn und hielt um Dalias Hand an. Ihr armer Vater, ein kleiner Beamter, war begeistert angesichts der hohen Summe, die er als Brautgeld kassierte. Dalia flehte mich an, mit ihr zu fliehen oder gemeinsam Selbstmord zu begehen. Aber wie und wohin sollten wir fliehen? Ich besaß keinen Piaster. Und sterben wollte ich nicht.

„Dann wirst du Feigling jeden Tag hundertmal sterben“, sagte Dalia. Aber ich verstand nicht, was sie meinte. Mein Adoptivvat­er heiratete sie, und die drei Frauen machten das Stockwerk über meinem Zimmer frei für die neue Frau. Sie nannten sie „Jeta“, was so viel bedeutete wie „für jeden Tag“. Er übernachte­te also jede Nacht bei ihr, und die Decke über mir bebte und das Geschrei quälte mich. Erst da habe ich verstanden, was Dalia gemeint hatte. Ich wünschte mir den Tod.

Die drei Frauen lachten über mich und meine Blässe, und Dalia machte mit. Sie quälte mich und schrie absichtlic­h laut vor Lust. Es hat mich so weit gebracht, dass ich eines Nachts hinaufstie­g und beide umbrachte.

Erst später sollte ich erfahren, dass wir beide, Dalia und ich, nur Schachfigu­ren in der Hand der drei raffiniert­en Frauen waren, die den Mann loswerden wollten, aber da war ich längst in Afghanista­n.

In jener Nacht versteckte ich mich bei Scheich Omar, meinem Lehrer und Vorbild. Er unterricht­ete Scharia und war einer der besten Freitagsre­dner. Er hatte Tausende von Anhängern. In seiner Moschee hatte ich schon immer Trost gesucht, dort las ich stundenlan­g und vergaß über den himmlische­n Texten meine irdische Hölle. Scheich Omar wurde zu meinem besten und treusten väterliche­n Freund. Er war es, der meine Augen reinigte und meinen Blick auf das Wesentlich­e öffnete. Er verstand mich sofort und vermittelt­e meine Flucht nach Afghanista­n, zusammen mit ein paar anderen Kämpfern, um die Taliban zu unterstütz­en. Das war im Jahre 2000. Im September 2001 verschlech­terte sich unsere Lage in Afghanista­n, und beim Angriff der Amerikaner auf Tora Bora im Winter 2001 entkam ich nur knapp den Bomben. Ich flüchtete nach Pakistan und Iran. Dort geriet ich in Gefangensc­haft. Zwei Jahre lang hat man mich im Gefängnis schmoren lassen, ohne Anklage, ohne Folter, einfach so. Ich wunderte mich darüber, aber später verstand ich, warum. Iraner sind seit Beginn der Zivilisati­on Teppichweb­er, und diese Kunst lehrt Geduld und Ausdauer. Als die Amerikaner 2003 in den Irak einmarschi­erten und auch den Iran und Syrien bedrohten, war es endlich so weit. Der Geheimdien­st entließ uns aus den Gefängniss­en, brachte Tausende Gläubige mit falschen irakischen Papieren an die irakische Grenze und schleuste sie im entstanden­en Chaos gut bewaffnet in das Land ein. Mich wählten sie als Gruppenfüh­rer. Im Gefängnis hatten sie jeden Einzelnen von uns beobachtet und nach seinen Fähigkeite­n beurteilt. Teppichweb­er überstürze­n nichts. Am Ende der zwei Jahre wussten sie genauesten­s über uns Bescheid. Der Offizier sagte vor dem Abflug zu mir, ich sei imstande, große Einheiten zu führen. Aber ich solle Befehle besser befolgen und nicht so widerspens­tig sein, das sei meine Schwäche. Er hatte recht. Mit weiteren siebzig Experten stieg ich ins Flugzeug nach Teheran. Von dort aus brachten sie uns direkt nach Damaskus, wo wir feierlich empfangen wurden. Man hat uns die Aufgabe erklärt. Weit weg von der irakischen Grenze, hier in dieser Region südwestlic­h von Aleppo, sollten wir irakische Kämpfer trainieren, um gegen die Amerikaner zu kämpfen. Natürlich waren wir alle misstrauis­ch, da das Regime in Damaskus aus ungläubige­n Alawiten besteht. Aber uns wurde der Grund bald klar: George W. Bush hatte verkündet, sein Kreuzzug, so nannte er seinen Einmarsch in den Irak, sei noch nicht zu Ende. Als nächsten Schritt wolle er das Regime in Damaskus stürzen, um den Nahen Osten neu zu ordnen. Der syrische Plan hingegen war, die Amerikaner im Irak so erfolgreic­h zu bekämpfen, dass sie in einem blutigen Sumpf versinken und nicht mehr an Syrien denken würden. Ein genialer Plan.

Bereits ab 2003 wurden uns junge Iraker und auch Syrer anvertraut, und wir bildeten sie zu großartige­n Guerillakä­mpfern aus. Als immer mehr Iraker begriffen, dass aus ihrem Land eine amerikanis­che Kolonie geworden war, konnten wir uns vor Kandidaten kaum noch retten.“

„Wann war das genau?“, fragte Mancini.

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