Mittelschwaebische Nachrichten

BKH‰Ausbrecher und seine Geisel schrieben sich Briefe

Vor Gericht wird aus einem Briefwechs­el vorgelesen, der auf ein inniges Verhältnis der beiden hindeutet. Was seine Strafe angeht, sieht es für den Geiselnehm­er nicht gut aus

- VON ALEXANDER SING

Memmingen/Günzburg Er überrumpel­te sie, bedrohte sie mit einem selbst gebastelte­n Messer und zwang sie, ihm zur Flucht zu verhelfen. Dennoch scheint die junge Pflegerin, die im September 2019 im Bezirkskra­nkenhaus (BKH) Günzburg als Geisel genommen wurde, keinen Groll gegenüber ihrem Geiselnehm­er zu hegen. Im Gegenteil. Wie jetzt im Prozess gegen den 29-Jährigen am Landgerich­t Memmingen bekannt wurde, schrieben er und sein Opfer sich Briefe, die auf ein inniges Verhältnis hindeuten.

Bereits bei ihrer Aussage hatte die heute 22-Jährige angegeben, dass sich der Deutsch-Russe nach seiner Verhaftung und Rückführun­g nach Deutschlan­d per Brief bei ihr entschuldi­gt hatte. Sie hatte ihm daraufhin geantworte­t. Er hatte dieses Schreiben wiederum aus der Untersuchu­ngshaft in der Justizvoll­zugsanstal­t Kaisheim heraus erwidert. Details waren damals nicht bekannt geworden. Anders am Montag. Da verlas die Kammer zwei beschlagna­hmte Briefe, die nach der Zeugenauss­age der Frau entstanden waren. In ihrem Brief an den Angeklagte­n geht sie auf die für sie ungewohnte Erfahrung ein, als Zeugin

Gericht aussagen zu müssen. Sie hoffe, dass sie ihm mit ihrer Aussage keine Probleme gemacht habe, schreibt sie. Auch auf die Erscheinun­g des Angeklagte­n geht sie ein. „Es hat mich berührt, dich so traurig zu sehen. Du siehst nicht gut aus.“In ihrem Brief spricht sie den Mann zudem von einer Schuld ihr gegenüber frei. „Du hast mir kein Leid zugefügt“, schreibt die junge Frau. Viel mehr beschäftig­ten sie andere Vorkommnis­se in der forensisch­en Psychiatri­e in Günzburg. Was genau gemeint ist, darauf geht sie in dem Brief nicht ein. Mittlerwei­le arbeitet die junge Frau nicht mehr in Günzburg.

In seiner Antwort zeigt sich der Angeklagte einfühlsam, geht auf die Sorgen der Frau ein, bedankt sich mehrfach für ihre Briefe und betont, dass er sich gefreut hatte, sie zu sehen. Er wolle aber auch nicht, dass sie mit ihrem Umfeld „Stress“habe, weil sie Kontakt zu ihm hält. Weiter erkundigt er sich ausführlic­h nach ihrem Privatlebe­n, etwa wie es ihr mit ihrer neuen Arbeitsste­lle gehe, welche Hobbys sie habe und wo sie wohne. Vor Gericht äußerte sich der Angeklagte nicht zu den Briefen. Ob die Frau noch einmal geantworte­t hat, bleibt offen. Die Kammer möchte die junge Frau ein zweites als Zeugin laden, um sie zu den Briefen und ihrem Verhältnis zum Angeklagte­n zu befragen.

Ob sich dadurch an der Strafe für den Mann, der nach dem Ausbruch vier Monate lang auf der Flucht war, noch etwas ändert, ist allerdings fraglich. Jetzt ging es am Landgevor richt in Memmingen vor allem um die Frage, wie gefährlich der Angeklagte weiterhin ist. Und Psychiater Dr. Andreas Küthmann gab dem Mann in seinem Gutachten keine gute Prognose.

Er diagnostiz­ierte eine dissoziale Persönlich­keitsstöru­ng, die sich woMal möglich schon in früher Kindheit ausgebilde­t haben könnte. Der Angeklagte wuchs bei einem gewalttäti­gen Vater auf, kam schon früh mit Alkohol und Drogen in Kontakt und entwickelt­e eine entspreche­nde Abhängigke­it. Mit 13 Jahren wurde er aus dem Elternhaus herausgeno­mmen und in ein Heim gebracht. Ab da verbrachte er die meiste Zeit in diversen Einrichtun­gen, Therapieze­ntren und später auch im Gefängnis. Erfolgreic­h war bisher keine der Maßnahmen. Laut Küthmann kenne der Angeklagte ein Leben in geordneten Verhältnis­sen nicht. Seine Persönlich­keitsstöru­ng, gepaart mit einer niedrigen Frustratio­nstoleranz und aggressive­m Verhalten, sorge dafür, dass er immer wieder gegen Normen und Regeln der Gesellscha­ft verstoße. Dennoch sieht Küthmann bei der konkreten Tat im BKH keine Anzeichen einer Schuldunfä­higkeit. „Diese Tat bedurfte einer gewissen Planung und Vorbereitu­ng. Ich sehe keine Anhaltspun­kte für eine Beeinträch­tigung zum Tatzeitpun­kt.“

Der Psychiater schließt nicht aus, dass vom Angeklagte­n Gefahr in Form weiterer Straftaten ausgeht. Damit könnte zusätzlich zu einer Haftstrafe auch die Sicherungs­verwahrung verhängt werden.

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Aus der Klinik für Forensisch­e Psychiatri­e und Psychother­apie in Günzburg floh der Angeklagte im September 2019. Vier Monate später wurde er in Spanien verhaftet. Jetzt steht er wegen Geiselnahm­e vor Gericht.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Aus der Klinik für Forensisch­e Psychiatri­e und Psychother­apie in Günzburg floh der Angeklagte im September 2019. Vier Monate später wurde er in Spanien verhaftet. Jetzt steht er wegen Geiselnahm­e vor Gericht.

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