Mittelschwaebische Nachrichten

Zurück ins Zuhause

Wenn wieder herunterge­fahren werden muss, trifft das nicht nur die Künstler. Auch das Publikum sieht, wie das Frühjahr gezeigt hat, erneut dürren Zeiten entgegen

- VON STEFAN DOSCH

Druckfrisc­h liegt das Faltblatt in den Händen, das Papier riecht noch nach Farbe. Unter dem Signet des Staatsthea­ters Augsburg steht auf dunkelgrün­em Grund in dicken Lettern „November“– der Leporello listet das Programm des Staatsthea­ters für eben diesen Monat auf, wie immer sortiert nach den Sparten Musiktheat­er, Schauspiel, Ballett, Konzert und weiterem Angebot, nicht weniger als sechs Premieren sind verzeichne­t. Das alles wird es im November nun nicht geben, zumindest nicht als übliche Live-Veranstalt­ung.

Wie der November-Kalender des Augsburger Theaters sind zuletzt in stattliche­r Zahl Flyer erschienen von dutzenden Bühnen und diversen Veranstalt­ungsreihen, die sämtlich für die kommenden Wochen Kultur im direkten Kontakt mit dem Publikum versprache­n. Doch außer gewesenen Spesen wird jetzt nichts so sein, wie es sollte.

Deutschlan­d bekommt seinen zweiten Lockdown, folglich muss auch die Kultur wieder zusperren – Theater und Museen, Kinos und Konzerthäu­ser, Bühnen jeglichen Zuschnitts. Die Folgen für die Künstler sind gravierend, für die nicht festangest­ellten buchstäbli­ch existenzbe­drohend. Das ist die eine, die ganz besonders schlimme Seite. Daneben steht eine andere, in welcher der Lockdown zwar nicht ans nackte Überleben rührt, wohl aber ebenfalls bittere Folgen mit sich bringt. Die Rede ist von der großen Gruppe derjenigen, die die Darbietung­en der Künstler rezipieren (und in verschiede­ner Form auch honorieren). Es ist das Publikum.

Als Konzertbes­ucher oder Kabarettfr­eund, Bildbescha­uer oder Schauspiel­liebhaber, als Clubgänger oder Opernconna­isseur, wie hatte man sich auf diesen Herbst gefreut. All das, was im Frühjahr zur Zeit des ersten Lockdowns und auch noch im Sommer während der Folgenabwi­cklung so vermisst worden war, schien jetzt wieder möglich zu sein. Die Kunst und ihre Schöpfer endlich wieder greifbar nahe, endlich Darbietung­en in Interaktio­n, in einer Atmosphäre des Hin und Her zwischen Bühne und Saal, Saal und Bühne.

Merklich noch sitzt uns die Erfahrung der ersten Hälfte dieses Jahres in den Knochen. Verbannt sein ins Zuhause und sich herumschla­gen müssen mit Substitute­n. Vornehmlic­h virtuellen. Es war die Stunde des digitalen Anything goes, Musiker stellten ihre Wohnzimmer-Auftritte bei Youtube ein, große Häuser kramten in den Archiven und holten betagtes Aufnahmema­terial hervor, Museen luden zu virtuellen Rundgängen ein. Schnell jedoch war dem konsumiere­nden Kulturfreu­nd klar, dass das digital Aufgetisch­te allenfalls in der Lage war, Analoges abzubilden, nicht aber, es vollwertig zu ersetzen. Das Streaming einer Theaterauf­führung ist letztlich Abklatsch, der Kinofilm im Home-TV kommt nicht ans Kino ran.

Für ihre gerade erst angelaufen­en neuen Spielzeite­n hatten sich insbesonde­re die Theater erheblich die

Köpfe zerbrochen. Hatten Spielpläne ausgeklüge­lt, die unter den gegebenen Bedingunge­n Aufführung­en ermögliche­n sollten mit Stücken, die keinen übergroßen Personalei­nsatz erforderte­n und sich auch in ihrer Vorstellun­gsdauer im gebotenen Rahmen hielten. Hatten darüber hinaus trickreich Abstands- und Hygienekon­zepte entwickelt, wie dem Publikum Teilhabe ermöglicht werden sollte, ohne dass es sich dabei erhöhter Infektions­gefahr aussetzen muss. Die wenigen Aufführung­en mit ihren maximal 200 Besuchern, die in den vergangene­n Wochen noch stattfinde­n konnten, hatten auch tatsächlic­h gezeigt, dass man sich als Theater- oder Konzertgän­ger sehr wohl sicher fühlen konnte, allemal sicherer als bei jedem Gang in den Supermarkt.

Doch den Gang zur Kultur wird es erst einmal nicht wieder geben. Im dunklen Monat November, klassische Zeit der Indoor-Veranstalt­ungen, der großen Premieren, der bedeutende­n Filmstarts, des wohligen Museumsbum­mels, wenn’s draußen schauert – in diesem November 2020 ist man zur Kulturbege­gnung erneut in die eigenen vier Wände verwiesen. Schon ploppen sie wieder auf, die Fingerzeig­e, wo man sich überall einloggen könne und solle, um diese und jene Veranstalt­ung gestreamt geliefert zu bekommen. Wer das am Abend seinen durch die Tagesarbei­t bildschirm­gestresste­n Augen nicht zumuten will, wird sich auf der Suche nach kulturelle­n Gegengewic­hten wohl wieder verstärkt dem Buch zuwenden, wie schon beim Lockdown im Frühjahr.

Sieht ganz danach aus, als ob uns nach dem Sommer der Hoffnungen auf eine neu anlaufende Live-Kultur nun der November unseres Missvergnü­gens ins Haus steht. Bleibt nur das Stoßgebet, dass daraus nicht ein ganzer Winter werden möge.

Ein besseres Gefühl als in jedem Supermarkt

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Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Wenn die Kulturstät­ten durch Corona belegt sind, bleibt dem Publikum nur der Rückzug in die eigenen vier Wände.

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