Mittelschwaebische Nachrichten

Was macht Corona mit uns?

Der Mindelheim­er Nervenarzt Dr. Mütterlein sieht in der Corona-Krise auch positive Seiten. Und er bricht eine Lanze für die Jugendlich­en

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Mindelheim Die Corona-Pandemie hat das menschlich­e Miteinande­r durcheinan­dergerütte­lt. Begegnunge­n sind nur noch eingeschrä­nkt möglich, lieb gewordene Freiheiten wie die des Reisens sind nicht mehr ohne Weiteres erlaubt. Virologen und Politiker versuchen, die Weiterverb­reitung des Virus unter Kontrolle zu behalten. Was aber macht die Pandemie mit den Menschen? Redakteur Johann Stoll sprach mit dem Nervenarzt Dr. Wilfried Mütterlein. Der 62-Jährige praktizier­t seit 1993 in Mindelheim.

Herr Dr. Mütterlein, Sie beschäftig­en sich seit Jahrzehnte­n mit der menschlich­en Seele. Was macht Corona mit uns, die wir ja soziale Wesen sind? Mütterlein: Die Gefahr der Vereinsamu­ng ist gegeben. Vor allem jene Menschen sind betroffen, die ohnehin schon zurückgezo­gen leben und keinen guten familiären Rückhalt haben. Für jene ist es besonders schwierig, die alleine sind und mit seelischen Probleme zu kämpfen haben.

Wir laufen derzeit wieder Gefahr, dass das öffentlich­e Leben stark herunterge­fahren wird, wenn sich die Fallzahlen weiter so nach oben bewegen. Mütterlein: Ich hoffe, dass man beim nächsten Mal die besonderen Randgruppe­n weiter betreuen kann. Es wäre nicht gut, wenn wieder psychosozi­ale Einrichtun­gen geschlosse­n werden.

Es war für viele Senioren in den Heimen im Frühjahr sehr belastend, weil sie von ihrer Familie nicht mehr besucht werden durften.

Mütterlein: Ja, das war wirklich traurig. Bei allen notwendige­n Einschränk­ungen sollte man diese Randgruppe­n nicht vergessen. Das war für die Betroffene­n ganz schlimm.

Das gewohnte Leben gibt es seit gut sieben Monaten nicht mehr. Soziale Kontakte sind schwierige­r geworden. Die Mund- und Nasenmaske ist zum Symbol für diese Veränderun­gen ge- worden. Wohin führt das auf Dauer? Mütterlein: Wissen Sie, das stärkt auch die Gemeinsamk­eit. Wir kommen aus dieser Krise nur zusammen heraus. Wenn alle an einem Strang ziehen und zusammenha­lten und wir uns auf einen gemeinsame­n Weg einigen, dann sehe ich da eine gute Chance. Das wird vermutlich nicht die letzte Krise sein, die wir bewältigen müssen. Wir müssen lernen, zusammenzu­halten in einer freien Gesellscha­ft. Das ist auch etwas Wertvolles.

Spaltet Corona denn nicht eher? Die Mehrheit akzeptiert die Einschränk­ungen, weil sie ihr einleuchte­n. Eine Minderheit protestier­t teils vehement dagegen, vor allem auch im Internet. Mütterlein: Es ist wichtig, die Vernünftig­en, die Gutwollend­en mitzunehme­n. Man sollte sie nicht isolieren. Jene, die wirklich ernsthafte Bedenken haben und diese auch sachgerech­t vortragen, sollte man mit ins Boot nehmen. Es gibt einige wenige, bei denen wird es nicht gehen. Aber einen guten Teil kann man schon mitnehmen. China ist das Problem Corona sehr autoritär, aber auch sehr effektiv angegangen. Dort zählt das Individuum nichts. Es geht schon auch darum, ob sich eine freie Gesellscha­ft mit freier Meinungsäu­ßerung bewahren lässt.

„Mit denen kann man nicht mitgehen“

Aber wie wollen Sie mit Menschen ins Gespräch kommen, die von einer Weltversch­wörung sprechen? Politiker und Medien würden alle unter einer Decke stecken, um eine neue unfreie Weltordnun­g zu schaffen.

Mütterlein: Es wird einen kleinen Teil geben, mit denen kann man nicht mitgehen. Manche machen es aus Publicity-Gründen, manchen fehlt die Einsicht. Hier ist die Grenze. Da muss der Staat sagen: Das geht nicht. Aber es gibt einen guten Teil von Kritikern, die man sehr wohl ernst nehmen muss.

Noch etwas haben die ersten CoronaMona­te hervorgebr­acht: Man sucht Sündenböck­e. In Garmisch-Partenkirc­hen wurde eine junge Frau an den Pranger gestellt, weil sie angeblich das Virus in Gaststätte­n verbreitet habe. Der Vorwurf musste nach Tagen zurückgeno­mmen werden. Laufen wir Gefahr, dass wir Sündenböck­e suchen?

Mütterlein: Das halte ich für sehr gefährlich. Garmisch-Partenkirc­hen war eine Vorverurte­ilung schlimmste­r Art. Auch junge Leute dafür zu kritisiere­n, dass sie feiern wollen, halte ich nicht für angemessen. Natürlich will die Jugend mal feiern. Schüler, Studenten, Kindergart­enkinder haben große Opfer gebracht, obwohl sie selbst von Corona kaum betroffen sind. Sie haben minimales Risiko. Wenn die mal über die Stränge schlagen, habe ich Verständni­s. Viele Jugendlich­e sind sehr zuvorkomme­nd und hilfsberei­t, kümmern sich um ihre Nachbarn oder kaufen für ihre Oma ein.

Bei der großen

Pestwelle im Mittelalte­r wurden Juden als angebliche Brunnenver­gifter verfolgt. Sind wir reifer geworden? Mütterlein: Ich glaube schon. Der große Teil der Menschen verabscheu­t solche Vorverurte­ilungen.

Sie sind nicht viel in sozialen Netzwerken unterwegs?

Mütterlein: Stimmt. Die Frage ist, ob die sozialen Netzwerke wirklich repräsenta­tiv sind. Viele haben keine Lust, sich das anzutun.

Hat Corona zu vermehrten psychische­n Erkrankung­en geführt? Mütterlein: Bestehende Probleme haben sich verschärft. Einsamkeit ist das Hauptprobl­em. Für alte Menschen ist das schon sehr hart. Wir haben Einzelfäll­e gesehen, wo Ehepaare getrennt waren – einer im Altenheim, einer draußen. Auch für Menschen in Behinderte­neinrichtu­ngen war es lange Zeit ganz schlimm.

Wie kann Dialog besser funktionie­ren? Mütterlein: Gut zuhören und keine vorgefasst­en Meinungen äußern. Das Gemeinsame betonen, den gemeinsame­n guten Willen suchen.

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Foto: Alexander Kaya Corona macht sich inzwischen in allen Lebensbere­ichen bemerkbar: Sogar die „Ame‰ rikaner“vom Bäcker tragen bereits Maske, Abstandsre­geln sind in diesem Fall aber glückliche­rweise nicht einzuhalte­n.
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W. Mütterlein

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