Mittelschwaebische Nachrichten
Die Frage der Woche Am Schreibtisch essen?
Es gibt dieses Klischeebild vom hohläugigen Computernerd, der sich vorm Monitor gerade geistesabwesend ein fetttriefendes Dreieck Capricciosa in den Mund schiebt und auf dessen Schreibtisch ein paar leere, schmutzige Pizzakartons stehen. Am Schreibtisch futtern? Das ist nicht nur für gesittete Ästheten das Endstadium des Verfalls der Esskultur. Mindestens so arm wie das Mampfen im Gehen auf offener Straße. Das wäre also geklärt.
Es folgt hier jetzt auch kein überzeugungssattes Plädoyer für das Essen am Schreibtisch.
Wer säße mittags nicht lieber in einem schönen Bistro statt im Büro, um in aller Ruhe zu speisen? Noch einen Espresso? Aber gerne. Was, schon nach drei? Jetzt aber – ja, ein Grappa geht immer noch – so langsam Aufbruch… Aber manchmal ist ein Sechsminutenmenü am Arbeitsplatz einfach die vernünftigere Lösung. Probieren Sie’s mal aus. Sie vermissen den bleichen Resopaltisch in der Kantine und das jovial-polyfone MahlzeitWünschen der lieben Kollegen mit ihren grauen Tabletts? Sie sehnen sich nach dem Business-Lunch mit dem grauenhaften Schwätzer, der Sie von der Suppe bis zum Nachtisch als persönliche Geisel hält, während Sie verzweifelt die gestärkte Stoffserviette kneten? Sie arbeiten lieber hungrig durch und halten abends auf dem Heimweg heimlich an irgendeinem McDriveSchalter? Es plagt Sie die Furcht, gerade zu kauen, wenn der Chef anruft und Sie rangehen müssen?
Dann sind Sie verloren für die Alltagskunst der pragmatischen „Esgeht-auch-mal-am-Schreibtisch“-Nahrungsaufnahme samt Begleiterscheinungen: ungestört, zur Not mit den Fingern, Füße hoch, nebenbei was tippend, im Arbeitsflow bleibend, gruppendynamikbefreites Multitasking mit Kalorienzufuhr. Manchmal reicht dann ja doch ein Apfel.
Mit dem erneuten Lockdown werden wieder mehr Menschen ihr Mittagessen am Schreibtisch zu sich nehmen. Das zeigt aber nicht nur mangelnde Wertschätzung gegenüber dem Essen, sondern auch gegenüber den Kollegen.
Denn was von der Mittagspause bleibt, ist dieser eklige Essensgeruch in der Luft. Intensiviert wird das abstoßende Geruchserlebnis, wenn jemand sein Essen aufwärmt. Dann hat auch der Kollege in der hintersten Ecke des Großraumbüros etwas davon. Natürlich sollte man gerade in Zeiten von Corona öfter lüften, aber wer schon mal einen leckeren, räßen Allgäuer Bergkäse für eine anständige Brotzeit mit ins Büro gebracht hat, weiß, dass Stoßlüften dagegen nicht ankommt. Auch der eigene Arbeitsplatz wird durch das Essen in Mitleidenschaft gezogen: Die Tasten der Tastatur glänzen von fettigen Fingern, dazwischen liegen die Krümel von vor zwei Wochen und auf dem Bildschirm zeigen sich klebrige Schlieren, weil man zum gesunden Nachtisch in einen saftigen Apfel gebissen hat.
Schließlich zeigt das Essen am Schreibtisch, dass man es nicht zu schätzen weiß. Am schlimmsten ist es, wenn jemand wie ein geistesabwesender Arbeitszombie auf den Bildschirm starrt, während er sich einen Löffel nach dem anderen in den Mund schaufelt. Schade, solche Menschen können sich weder am Geschmack noch am Gefühl des Sattseins erfreuen.
Essen ist eine der schönsten Sachen auf der Welt. Es ist schön, sich darauf zu freuen, es ist schön, sich den Geschmack auf der Zunge zergehen zu lassen und es ist schön, sich danach zufrieden zurückzulehnen. Seine Mahlzeiten am Schreibtisch und somit in Gedanken an die Arbeit versunken zu sich zu nehmen, wird dem nicht gerecht.