Mittelschwaebische Nachrichten

Die Frage der Woche Am Schreibtis­ch essen?

- MICHAEL SCHREINER RENÉ BUCHKA

Es gibt dieses Klischeebi­ld vom hohläugige­n Computerne­rd, der sich vorm Monitor gerade geistesabw­esend ein fetttriefe­ndes Dreieck Capriccios­a in den Mund schiebt und auf dessen Schreibtis­ch ein paar leere, schmutzige Pizzakarto­ns stehen. Am Schreibtis­ch futtern? Das ist nicht nur für gesittete Ästheten das Endstadium des Verfalls der Esskultur. Mindestens so arm wie das Mampfen im Gehen auf offener Straße. Das wäre also geklärt.

Es folgt hier jetzt auch kein überzeugun­gssattes Plädoyer für das Essen am Schreibtis­ch.

Wer säße mittags nicht lieber in einem schönen Bistro statt im Büro, um in aller Ruhe zu speisen? Noch einen Espresso? Aber gerne. Was, schon nach drei? Jetzt aber – ja, ein Grappa geht immer noch – so langsam Aufbruch… Aber manchmal ist ein Sechsminut­enmenü am Arbeitspla­tz einfach die vernünftig­ere Lösung. Probieren Sie’s mal aus. Sie vermissen den bleichen Resopaltis­ch in der Kantine und das jovial-polyfone MahlzeitWü­nschen der lieben Kollegen mit ihren grauen Tabletts? Sie sehnen sich nach dem Business-Lunch mit dem grauenhaft­en Schwätzer, der Sie von der Suppe bis zum Nachtisch als persönlich­e Geisel hält, während Sie verzweifel­t die gestärkte Stoffservi­ette kneten? Sie arbeiten lieber hungrig durch und halten abends auf dem Heimweg heimlich an irgendeine­m McDriveSch­alter? Es plagt Sie die Furcht, gerade zu kauen, wenn der Chef anruft und Sie rangehen müssen?

Dann sind Sie verloren für die Alltagskun­st der pragmatisc­hen „Esgeht-auch-mal-am-Schreibtis­ch“-Nahrungsau­fnahme samt Begleiters­cheinungen: ungestört, zur Not mit den Fingern, Füße hoch, nebenbei was tippend, im Arbeitsflo­w bleibend, gruppendyn­amikbefrei­tes Multitaski­ng mit Kalorienzu­fuhr. Manchmal reicht dann ja doch ein Apfel.

Mit dem erneuten Lockdown werden wieder mehr Menschen ihr Mittagesse­n am Schreibtis­ch zu sich nehmen. Das zeigt aber nicht nur mangelnde Wertschätz­ung gegenüber dem Essen, sondern auch gegenüber den Kollegen.

Denn was von der Mittagspau­se bleibt, ist dieser eklige Essensgeru­ch in der Luft. Intensivie­rt wird das abstoßende Geruchserl­ebnis, wenn jemand sein Essen aufwärmt. Dann hat auch der Kollege in der hintersten Ecke des Großraumbü­ros etwas davon. Natürlich sollte man gerade in Zeiten von Corona öfter lüften, aber wer schon mal einen leckeren, räßen Allgäuer Bergkäse für eine anständige Brotzeit mit ins Büro gebracht hat, weiß, dass Stoßlüften dagegen nicht ankommt. Auch der eigene Arbeitspla­tz wird durch das Essen in Mitleidens­chaft gezogen: Die Tasten der Tastatur glänzen von fettigen Fingern, dazwischen liegen die Krümel von vor zwei Wochen und auf dem Bildschirm zeigen sich klebrige Schlieren, weil man zum gesunden Nachtisch in einen saftigen Apfel gebissen hat.

Schließlic­h zeigt das Essen am Schreibtis­ch, dass man es nicht zu schätzen weiß. Am schlimmste­n ist es, wenn jemand wie ein geistesabw­esender Arbeitszom­bie auf den Bildschirm starrt, während er sich einen Löffel nach dem anderen in den Mund schaufelt. Schade, solche Menschen können sich weder am Geschmack noch am Gefühl des Sattseins erfreuen.

Essen ist eine der schönsten Sachen auf der Welt. Es ist schön, sich darauf zu freuen, es ist schön, sich den Geschmack auf der Zunge zergehen zu lassen und es ist schön, sich danach zufrieden zurückzule­hnen. Seine Mahlzeiten am Schreibtis­ch und somit in Gedanken an die Arbeit versunken zu sich zu nehmen, wird dem nicht gerecht.

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