Mittelschwaebische Nachrichten

Frankreich – ein Land im Visier der Extremiste­n

Am Tag des Inkrafttre­tens erklärt Kanzlerin Merkel noch einmal ganz genau, warum die scharfen Maßnahmen notwendig seien – und warum es die einen trifft und die anderen verschont bleiben

- VON STEFAN LANGE

Berlin Es ist ein Termin, mit dem niemand gerechnet hat. Morgens um kurz nach acht läuft in den Redaktione­n die Einladung zur Pressekonf­erenz mit der Regierungs­chefin ein: „14:00 Uhr, nach dem CoronaKabi­nett: Bundeskanz­lerin Dr. Angela Merkel“. Der Text ist geschäftsm­äßig nüchtern, doch jeder weiß um die Bedeutung dieses Auftritts. Eigentlich, so schien es bis dahin, ist zur zweiten Corona-Vollbremsu­ng in Deutschlan­d schon alles gesagt. Angela Merkel hat Pressekonf­erenzen abgehalten, Videobotsc­haften ausgesende­t, eine Regierungs­erklärung abgegeben. Doch der Kanzlerin ist dieser 2. November – der Tag, an dem bundesweit die neuen scharfen Corona-Regeln in Kraft treten – so wichtig, dass sie sich noch einmal erklären will.

Der Ärger über die neuen Corona-Maßnahmen ist auch im Kanzleramt angekommen. Merkel spürt deutlich, dass etwa viele Gastronome­n in Deutschlan­d sauer sind, weil sie Geld für Hygienekon­zepte in die Hand genommen haben und nun trotzdem ihren Laden schließen müssen. Schnell nähert sich die Pressekonf­erenz der Frage, wo in diesen Tagen die Gerechtigk­eit bleibt? Warum dürfen Friseursal­ons öffnen, Kosmetikst­udios aber nicht? Warum dürfen sich Menschen zu Gottesdien­sten versammeln und singen, andere Versammlun­gen aber sind verboten? Warum macht die Kneipe zu, der Buchladen aber bleibt geöffnet?

Merkel nimmt sich Zeit für die Antworten, einmal stellt sie selber erstaunt fest, dass sie sich „in Rage geredet“hat. Ausgerechn­et Merkel. Angesichts des explodiere­nden Infektions­geschehens, sagt sie, „ist nicht mehr der Zeitpunkt, an dem wir diese oder jene Variante machen können“. Die Physikerin zeigt sich da wieder als Jüngerin der Zahlen, die bei der Pandemiebe­kämpfung keine Grauzonen, sondern nur Schwarz oder Weiß kennen: „Wir wären dann halbherzig und das Virus bestraft Halbherzig­keit.“

Halbherzig wäre es aus Merkels Sicht, die Kontakte jetzt nicht konsequent einzuschrä­nken. Damit Deutschlan­d wieder auf die Beine kommt, Kontakte wieder nachverfol­gbar werden und das Gesundheit­swesen nicht überkocht, müsste jeder Mensch seine Kontakte um 75 Prozent reduzieren, erklärt die Kanzlerin. Von vier privaten Treffen müssen also drei ausfallen, damit sich nicht ständig immer neue Leute anstecken. Merkel will erreichen, dass die 7-Tage-Inzidenz wieder unter 50 sinkt. Je höher dieser Wert, desto mehr Menschen sind infiziert. Derzeit liegt er im Bundesdurc­hschnitt bei rund 120. Zum Vergleich: Vor vier Wochen hatte er knapp 17 betragen.

Und was ist jetzt mit den Bars, die nicht öffnen dürfen, den Kulturscha­ffenden, die nicht auftreten können? Merkel zeigt viel Verständni­s, dass keine Opern aufgeführt werden, schmerzt sie als BayreuthFa­n persönlich. Aber die Kontakte müssen runtergefa­hren werden, und das nicht etwa um jeden Preis, sondern zu möglichst geringen Kosten.

Die Wirtschaft, rechnet Merkel vor, muss deshalb im Gegensatz zum ersten Lockdown im Frühjahr diesmal am Laufen gehalten werden. Je mehr Hilfen gezahlt werden müssten, desto stärker die finanziell­e Belastung in den nächsten Jahren. In diesem Sinne sollen auch die Kitas und Schulen möglichst geöffnet bleiben, damit der Nachwuchs betreut wird und die Eltern ihrer Arbeit nachgehen können. „Wenn aber all diese Kontakte unabdingba­r sind, dann müssen wir sie an anderer Stelle einschränk­en“, sagt die Kanzlerin und meint damit eben die Gastronomi­e, den Freizeitsp­ort, die Veranstalt­ungen.

Merkels Bewegungsd­rang vor der blauen Wand der Bundespres­sekonferen­z nimmt jetzt zu. Sie gestikulie­rt, sie duckt sich auf ihrem Stuhl, das ist bei ihr oft ein Zeichen, dass sie auf Angriff schaltet. „Wir haben lange abgewogen, ob es einen besseren oder milderen Weg gibt. Wir haben ihn nicht gesehen“, erklärt die Kanzlerin und wendet sich kampfeslus­tig an ihre Kritiker: „Wer mir sagt, ihr habt an der falsche Stellen beschlosse­n, der muss mir dann genau sagen, wo wir es sonst machen sollen.“An anderer Stelle wird sie geradezu pathetisch. „Wir haben auch alle einen Eid geleistet auf das Grundgeset­z, das mit der Würde des Menschen beginnt“,

Die Menschen sollen sollen weniger Kontakte haben

sagt sie – und erklärt damit, warum sie Risikogrup­pen schützen will.

In Merkels Logik geht es nicht anders. Gerechtigk­eit könne doch nicht bedeuten, dass entweder alle weiter alles dürften oder dass allen alles verboten werde, sagt sie. Nein, das gerechtere und mildere Mittel ist ein Weg, der bei maximalem Nutzen im Corona-Kampf den geringsten wirtschaft­lichen Schaden verspricht, wie die Kanzlerin deutlich macht. Auf Restaurant­s übertragen heißt das, dass deren Schließung zwar Geld kostet, dieser Schaden aber hinzunehme­n ist. Denn trotz aller Hygienekon­zepte hält Merkel „die Kontaktdic­hte in Restaurant­s und Gaststätte­n, nicht zwischen den Tischen, sondern an den Tischen“, für zu hoch.

Am Ende der Veranstalt­ung mahnt Kanzlerin Angela Merkel den Zusammenha­lt an. Jeder habe es in der Hand, „diesen November zu unserem gemeinsame­n Erfolg zu machen“, sagt sie. Überborden­de Silvesterf­eiern werden es auch dann nicht geben können. Aber immerhin ein Weihnachts­fest, das zwar unter Corona-Bedingunge­n gefeiert werde, aber nicht eines der Einsamkeit sei.

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Kanzlerin Angela Merkel zeigt Verständni­s für den Unmut mancher Menschen über die Maßnahmen zur Corona‰Eindämmung. Doch sie ruft dazu auf, die Regeln zu befolgen.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Kanzlerin Angela Merkel zeigt Verständni­s für den Unmut mancher Menschen über die Maßnahmen zur Corona‰Eindämmung. Doch sie ruft dazu auf, die Regeln zu befolgen.

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