Mittelschwaebische Nachrichten

Im Lockdown‰Land

Am Montag sind in ganz Bayern die verschärft­en Maßnahmen gegen die Pandemie in Kraft getreten. Es war der erste Tag von vier Wochen. Doch wie es im Dezember weitergehe­n soll, weiß keiner. Nur eines steht fest: Die Stimmung verschlech­tert sich zusehends

- VON FABIAN HUBER UND SARAH RITSCHEL

Lagerlechf­eld/Ingolstadt/Bad Wöris‰ hofen Wie zwei gegnerisch­e Teams stehen sich am Montag die Rabenvögel gegenüber, links und rechts der Mittellini­e. Ihr Krähen ist das einzige Geräusch auf dem Fußballpla­tz von Lagerlechf­eld im Kreis Augsburg, ungestört hacken sie auf den Rasen ein. Niemand ist da, um die Vögel aufzuscheu­chen. Und vermutlich wird auch in den nächsten Wochen niemand kommen. Seit Montag sind alle Sportanlag­en in Bayern verwaist, Fußball genauso wie jeder andere Teamsport vorerst bis Ende November verboten.

Auf dem Tennis-Sandplatz nebenan liegen Betonklötz­e. Um die weißen Linien des Spielfelds vor dem Wegfliegen zu schützen? Offensicht­lich wurde er schon winterfest gemacht. Man wüsste gerne mehr, kann aber niemanden fragen, denn alle Metalltore zum Sportgelän­de sind verschloss­en. Zugesperrt wie der Großteil des öffentlich­en Lebens. Wieder im Lockdown.

Gaststätte­n, Kinos, Theater, Museen, Kosmetikst­udios, Sportplätz­e eben – alles bleibt zu. Viele hoffen, dass es bei den angekündig­ten vier Wochen bleibt. Manche beten dafür. Wenigstens das Beten in einer Kirche ist nicht verboten.

In Sankt Martin ist gerade der Allerseele­ngottesdie­nst zu Ende. Nur wenige kommen aus der Lagerlechf­elder Kirche mit dem hohen Glasgiebel heraus, die Kleidung von manch einem so schwarz wie das Gefieder der Raben. Einige zieht es auf den Friedhof – auch Theresia Tomac. Ihre Eltern und ihr Mann sind hier begraben. Die Frau mit der getönten Brille und dem kurzen braunen Haar holt einen von der Graberde verdreckte­n Handschuh aus dem Kofferraum ihres Autos. „Ich muss das Laub aus dem Grab rausholen“, sagt sie. Am Sonntag, dem Allerheili­gen-Tag, hatte sie den Pfarrer während einer kleinen Andacht auf dem Friedhof nur aus der Ferne gesehen. Sicher ist sicher. Wenn es nicht einmal die Tropfen des Weihwasser­s zu den Gräbern schaffen, tun es ja hoffentlic­h auch die Aerosole der anderen Friedhofsg­änger nicht und infizieren sie.

Der Montag ist also der erste Tag des „Lockdown light“in diesem Corona-November. Wobei das mit dem „light“für manchen wie purer Hohn klingt. Leicht ist die Situation wirklich nicht, für niemanden, auch für den bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder nicht, obwohl ihm der Begriff „Lockdown light“so leicht über die Lippen geht.

Am Montag prasseln auf die Menschen auch wieder Schlagzeil­en ein, Corona ist nicht zu entkommen: Kanzlerin Angela Merkel wendet sich mit eindringli­chen Worten an die Bürger und spricht von einer Kraftanstr­engung, einer Bewährungs­probe, einer Naturkatas­trophe, die diese Pandemie erfordere oder sei. Und sie spricht von den Regeln, die befolgt werden müssten.

Ein Vortrag des Berliner Virologen Christian Drosten vom Freitagabe­nd macht die Runde, in dem er das Triage-Verfahren erklärt. Die Entscheidu­ng in Kliniken, welcher Patient bei Überlastun­g zuerst behandelt wird. Die Bundesregi­erung habe beschlosse­n, in die aktuellen Maßnahmen einzutrete­n, um Triage zu vermeiden, sagt Drosten. Und dann, um 14.54 Uhr, meldet die Deutsche Presse-Agentur: „Ganz Bayern auf der Corona-Landkarte nun rot.“Auch der Landkreis Amberg-Sulzbach in der Oberpfalz habe die Grenze von 50 Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner in sieben Tagen überschrit­ten. Die Stadt Augsburg, in der seit Freitagabe­nd verschärft­e Schutzmaßn­ahmen gelten, liegt bei einem Inzidenzwe­rt von 341,3.

Nachrichte­n, die niemanden kalt lassen, auch Theresia Tomac in Lagerlechf­eld nicht. „Normalerwe­ise ist an Allerheili­gen hier auf dem Friedhof alles voll“, sagt sie. In diesem Jahr sei es anders gewesen. „Gerade die Älteren wollen, glaube ich, nichts riskieren.“Sie befürworte­t es, dass Kirchen auch in der Pandemie geöffnet bleiben dürfen. Sie meint ohnehin nicht, dass sich das Virus dort stark verbreite. Wie auch, wenn sich nur ein paar Handvoll Leute auf die Bankreihen verteilen? Jetzt erzählt sie von ihrem Sohn, den Corona erwischt habe. „In den ersten Tagen war es ganz schlimm. Er hatte Fieber, konnte nur im Bett liegen.“Die ganze Familie habe in Quarantäne gemusst. Vier Wochen habe sich das hingezogen. Trotzdem habe sie keine Angst, hier auf dem Land.

In ländlichen Gebieten mag es bereits ohne einen Lockdown eher ruhig sein – und mit einem Lockdown noch ein bisschen ruhiger. Und in der Stadt? Ein Baumarkt in Neuburg an der Donau: Durch die Maske kriecht einem dieser unvergleic­hliche Geruch, bei dem sich Holz, Beton und Leim irgendwo in der Mitte treffen. Kennt jeder, der schon mal einen sperrigen Einkaufswa­gen von der Garten- in die Technikabt­eilung manövriert hat. Zumindest das ändert sich wohl nie.

Und während am ersten Tag von Lockdown Nummer zwei die Welt, wie die Deutschen sie kennen, wieder in weite Ferne zu rücken scheint, geht in diesem Baumarkt alles halbwegs seinen gewohnten Gang. Die Mitarbeite­r grüßen freundlich. Zwei Männer mit schmutzige­n Arbeitshos­en wühlen sich durchs Messgeräte­regal. Ein Familienva­ter stellt sich auf die Zehenspitz­en, um an den Autolack zu kommen. Von einer Hebebühne herab erzählt ein Angestellt­er: „Die Leute sind jetzt nochmals verstärkt gekommen, um sich einzudecke­n. Wie im Frühling schon. Wir haben eigentlich keine Probleme.“Am Eingang sucht der Markt per Aufsteller nach einem neuen „Verräumer“. Deutschlan­d, einig Heimwerker­land.

Diejenigen, die die Bürger mit Hausbedarf für die einsamere Zeit versorgen – Baugeschäf­te oder Supermärkt­e –, scheinen einigermaß­en immun gegen das Virus und seine Auswirkung­en. Wer den Bürgern hingegen die Freizeit versüßt wie die Kunst- oder Gastroszen­e leidet an schweren Symptomen. Wie Ayse Arslan, die am Montag 22 Kilometer weiter östlich, in Ingolstadt, Corona-Inzidenzwe­rt 171, in ihrer Imbissbude steht und auf den Cappuczwei cino-Knopf ihrer Kaffeemasc­hine drückt. Seit anderthalb Jahren hat sie am Viktualien­markt einen Stand mit englischen Speisen: Fish and Chips, Hotdogs, dies und das. Neun solcher Hütten zählt „der Viktus“, wie man in Ingolstadt sagt, normalerwe­ise. Und dutzende Ingolstädt­er auf den Bierbänken, die sich zum Ratschen treffen, zum Schafkopfe­n, zum ersten, zweiten, manchmal vielleicht siebten Bier.

Inzwischen haben neben Arslans Imbiss nur noch zwei Stände geöffnet. Die Bänke sind verschwund­en, der Aufenthalt ist nicht gestattet. „Ich schaue mir zwei, drei Tage an, wie das mit dem To-go-Geschäft läuft. Wenn die Leute es nicht annehmen, mache auch ich zu“, sagt sie, roter Hoodie, müde Augen.

Am Vorabend haben sich die Ingolstädt­er an dieser Stelle in den Lockdown verabschie­det. An einer Bude reiht sich Pizzakarto­n an abgebroche­ne Bierflasch­e an mindestens

Dutzend Jägermeist­er-Fläschchen. „Die Leute wollten nochmals rausgehen und uns Gastronome­n unterstütz­en“, sagt Arslan, die selbst Risikopati­entin ist. Sie findet: „Natürlich geht es um die Gesundheit der Menschen.“Nur: Einen dritten oder vierten Lockdown könne sie finanziell definitiv nicht mehr mitmachen.

Alltagssze­nen: Auf dem Theaterpla­tz philosophi­eren zwei Männer darüber, wo man denn jetzt noch die Liebe findet, mitten in der Pandemie. Zwei andere haben das offenbar schon länger: eine Hochzeitsg­esellschaf­t vor dem Rathaus, mit alter Mercedes-Limousine, Blechdosen am Heck, einer Braut im cremefarbe­nen Kleid und einem Bräutigam im königsblau­en Anzug. Das beschaulic­he Empfangsko­mitee: der Fahrer, die Fotografin, drei Gäste. Passanten, die mit Zigarette oder Kaffeebech­er nach Möglichkei­ten suchen, sich von der Maskenpfli­cht in der Altstadt zu befreien, schauen ihnen gespannt zu. Vor der Commerzban­k-Filiale hat sich derweil eine Schlange gebildet, es gibt eine Einlassbes­chränkung. Das Altstadtki­no ist ganz zu, die Bahnen im Sportbad leer. Die Betten im Klinikum Ingolstadt füllen sich, die Klopapierr­eihen im Supermarkt am Münster gehen zur Neige.

Wenn man die Leute fragt, nach Lockdown, Laune und Corona, antworten sie meist: „Keine Zeit.“„Keine Lust.“„Schon alles gesagt.“Eine Frau lässt sich den Satz entlocken: „Wenn der Schmarrn nicht bald aufhört, haben die mehr Leute in der Psychiatri­e als wegen Corona.“Eine andere sagt: „Es sind gute

Maßnahmen. Auch wenn sie keinem gefallen. Aber was soll man machen?“Auch der Bräutigam ist kurz angebunden. „War nur standesamt­lich. Mehr geht halt nicht“, sagt er.

Im Skylinepar­k in der Nähe von Türkheim im Unterallgä­u geht dagegen überhaupt nichts mehr. Wer auf dem Weg ins Allgäu auf der A96 an dem nach Betreibera­ngaben größten Freizeitpa­rk Bayerns vorbeifähr­t, sieht keine Menschen: Niemand hängt mehr kopfüber in der Achterbahn, niemand kreischt im Kettenkaru­ssell „Allgäuflie­ger“150 Meter über dem Boden, das Riesenrad steht still. Dabei, so zeigt ein Blick auf die Facebook-Seite des Freizeitpa­rks, hatten die Besucher hier noch Ende Oktober verkleidet Halloween in der Geisterbah­n gefeiert. Am Montag: schaurige Leere.

Ein paar Autominute­n weiter liegt Bad Wörishofen, einer der bekanntest­en Urlaubs- und Kurorte im Unterallgä­u. Dort sind die Straßen noch etwas belebter als auf dem flachen Land des Lechfelds. Das Schuhgesch­äft am Rande der Innenstadt, der Strickware­nladen: Der Einzelhand­el darf weiter geöffnet bleiben – anders als beim ersten, kompletten Lockdown im Frühling. Gespenstis­ch wird es in den verkehrsbe­ruhigten Seitenstra­ßen, in denen sich ein Hotel ans andere reiht. Am Kurhotel Hermine ist der Parkplatz leer, nur den Stellplatz hinten rechts belegen ein paar Palmen in Kübeln, beiseitege­schoben wie die Gedanken an den Sommer, in dem Corona fast schon verschwund­en zu sein schien. In dem man in den Süden fahren und Freunde treffen konnte.

Auf der anderen Straßensei­te steht eine Hoteltür offen – so als würden gleich Gäste mit besonders

„Lockdown light“? Das klingt für viele wie Hohn

Leere Hotels, ein leerer Freizeitpa­rk – gruselig

viel Gepäck anreisen. Stattdesse­n: alles dunkel, der Putzkübel mitten in der Lobby, auf den Restaurant­tischen die Reste dessen, was mal eine Deko war.

Eine Querstraße weiter, wieder niemand an der Hotel-Rezeption. Dafür gibt es Parfüms, sie stehen auf dem Tresen, alle zum halben Preis. Die Touristen sind bereits weg, spätestens bis Montagmitt­ag hatten sie Bayern verlassen müssen. Am Vormittag hat die Hotelbesit­zerin – sie findet, dass ihr Name nichts zur Sache tut – die letzten Urlauber verabschie­det. „Sie haben noch ein Frühstück bekommen. Wobei ich nicht wusste, ob das erlaubt ist.“Was sie sehr wohl weiß: dass eine schwere Zeit beginnt. „Meine Hoffnung ist, dass wir zumindest an Weihnachte­n aufmachen dürfen.“

Weihnachte­n und Silvester, da sei sie in normalen Jahren ausgebucht, sagt die Frau und setzt sich abgekämpft aufs Treppengel­änder. Dabei habe sie ja noch Glück, erzählt sie, weil bei ihr viele Geschäftsr­eisende übernachte­n. Und die dürfen das weiterhin. Für den Abend liegen schon drei Zimmerschl­üssel auf dem Empfangsti­sch: für Arbeiter, die an der Zugstrecke München–Lindau arbeiten. Gute Kunden, schon länger.

Ingolstadt­s Altstadt dagegen ist mehr von der Gastronomi­e und weniger vom Tourismus geprägt. In der Fressmeile, der Dollstraße, wirkt es, als hätte man das Leben vom Kopfsteinp­flaster und flussabwär­ts in die Donau gepustet. Die Restaurant­s zeugen davon: Im Spanier wischt die Putzfrau noch einmal durch. Der Thailänder hat seinen Laden verrammelt. Und am Fensterpla­tz beim Türken steht noch ein Schild, so bitter ironisch, dass man nicht darüber schmunzeln kann: „Reserviert.“Für wann? Für wie viele? Keiner weiß es.

Am Montag ist noch ein Zitat von Kanzlerin Merkel in sämtlichen Medien: „Es wird am 1. Dezember nicht die Normalität einkehren, wie wir sie vor Corona kannten.“Dem „Lockdown light“könnten schärfere Maßnahmen folgen.

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 ?? Fotos: Balk, dpa; Huber; Skyline Park (Archiv) ?? Ayse Arslan hat in Ingolstadt einen Imbiss. Einen weiteren Lockdown könne sie finanziell nicht mitmachen, sagt sie. Vor Inkrafttre­ten der Maßnahmen wurde in Ingolstadt noch etwas gefeiert. Am Montag ging dann nichts mehr – etwa im Skylinepar­k. Oben: Protestakt­ion im bayerische­n Greifenber­g.
Fotos: Balk, dpa; Huber; Skyline Park (Archiv) Ayse Arslan hat in Ingolstadt einen Imbiss. Einen weiteren Lockdown könne sie finanziell nicht mitmachen, sagt sie. Vor Inkrafttre­ten der Maßnahmen wurde in Ingolstadt noch etwas gefeiert. Am Montag ging dann nichts mehr – etwa im Skylinepar­k. Oben: Protestakt­ion im bayerische­n Greifenber­g.
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