Mittelschwaebische Nachrichten

Das schwerste Spiel seines Lebens

Gerd Müller war der erfolgreic­hste Fußball-Stürmer seiner Zeit. Heute wird er 75. Der gebürtige Nördlinger leidet seit Jahren an Alzheimer und lebt in einem Pflegeheim. Wie viel er davon noch mitbekommt, ist nur zu erahnen

- VON ANTON SCHWANKHAR­T

Augsburg Gerd Müller, der erfolgreic­hste Fußball-Torjäger aller Zeiten, wird heute 75. Ob er selbst das weiß, ob er es versteht? Schwer zu sagen. Der geborene Nördlinger sitzt im Rollstuhl und muss mit pürierter Nahrung gefüttert werden. „Er isst so gut wie nichts mehr“, sagt seine Frau Uschi, die ihn seit fünf Jahren täglich in einem Pflegeheim vor den Toren Münchens besucht. Gerd Müller leidet seit Jahren an Alzheimer-Demenz. „Es ist schön, wenn der Gerd kurz die Augen aufmacht“, sagt Uschi Müller in Bild. „Er ist ruhig und friedlich, muss, glaube ich, auch nicht leiden.“

Die Krankheit ist unheilbar. Sie lässt die Menschen langsam verschwind­en. Müllers Verschwind­en begann 2011. Das Taxi, das von Trento aufbrach, kam nicht weit. Schon nach wenigen hundert Metern ließ sich der kleine Mann mit den grauen Haaren und dem gepflegten Vollbart am Bahnhof absetzen. Es war fünf Uhr morgens. Der Fahrgast hatte bemerkt, dass er nicht genügend Geld für eine derart weite Fahrt dabeihatte. Er wollte den Zug nehmen. Mit der Bahn aber ist er dann auch nicht gefahren. Desorienti­ert und verwirrt sei er gewesen, als Polizisten Müller am frühen Morgen aufgriffen, hieß es.

Seine Frau Uschi, mit der Müller seit über 50 Jahren verheirate­t ist, hat ihn damals aus Norditalie­n abgeholt. Uschi war immer da, wenn Gerd sie gebraucht hat. Und das war häufig der Fall.

Der FC Bayern, der Müller als Nachwuchst­rainer beschäftig­t hatte, spielte den Vorgang herunter. Der Verein, der seinen Spielern mehr als man es glauben möchte, nicht nur Arbeitgebe­r sondern auch Retter in verschiede­nsten Malaisen des Lebens war, hat Müller auch hier geschützt und gestützt. Irgendwann war die Erkrankung nicht mehr geheimzuha­lten.

Als am Abend des 6. Oktober 2015 die Nachricht von Müllers Erkrankung über die Agenturen lief, blieb nicht nur in vielen Sportredak­tionen für Momente die Zeit stehen. Es waren die alten Bilder in den Köpfen, die nicht zu einem dementen Jahrhunder­tstürmer passen wollen. Wie der Sport in seiner kraftstrot­zenden, leistungso­rientierte­n Jugendlich­keit überhaupt immer irritiert, wenn er auf Verfall und Ende In wenigen Fußballern auf der Welt war das Außergewöh­nliche derart konzentrie­rt, wie in den 1,76 Metern, auf die sich ein erstaunlic­h rundlicher Körper erstreckte. Für einen Weltklasse­stürmer war Müller eigentlich zu klein und zu pummelig. „Kleines dickes Müller“, hat ihn Zlatko „Tschik“Cajkovsky gerufen, sein erster Trainer beim FC Bayern. Der Jugoslawe durfte das. Er war kleiner als Müller und dennoch einer der besten Außenstürm­er der Welt gewesen.

Gerd Müller war als jüngstes von fünf Kindern in Nördlingen geboren und wuchs in einfachen Verhältnis­sen auf. Ein Straßenfuß­baller, wie viele in seiner Zeit. Aber anders als andere war er schüchtern und bescheiden. Als Zwölfjähri­ger schloss er sich dem TSV Nördlingen an, dessen Spielstätt­e ein halbes Jahrhunder­t später zum „Gerd-MüllerStad­ion“ernannt wurde.

Mit 14 begann er eine Weberlehre. Mit 17 debütierte er in der Nördlinger Männermann­schaft, die er praktisch im Alleingang in die Landesliga schoss. Nach 47 Toren in 28 war klar, dass im Ries ein Juwel heranwuchs. Eines, dass sich der damalige Bundesligi­st 1860 München gerne gesichert hätte. Doch der FC Bayern war eine Stunde früher im Hause Müller aufgekreuz­t. Für 4400 Mark Ablöse wechselte der spätere Jahrhunder­tstürmer zu den Roten. Nebenher arbeitete er halbtags bei einem Möbelhändl­er.

Müllers Start beim damaligen Regionalli­gisten FC Bayern verlief holprig. „Was soll ich mit dieses Junge, diese Figur, unmöglich“, maulte Trainer Cajkovsky und ließ den Nördlinger zunächst links liegen. Am Ende der Aufstiegss­aison in die Bundesliga hatte „kleines dickes Müller“39 Mal getroffen. Sein außergewöh­nliches Talent aus beinahe jeder Lage ein Tor zu erzielen, war nun nicht mehr zu übersehen. Müller hatte einen siebten Sinn für den Weg des Balles und ein ausgeprägt­es Gefühl für Raum und Zeit. Auf diese Weise hat er es in den Duden geschafft. Müllern nannte man das, was Müller tat. Ein „Bomber der Nation“, wie er fälschlich beschrietr­ifft. ben wurde, war er nicht. Er traf selten spektakulä­r oder aus großer Distanz. Sein Stilmittel war Raffinesse, nicht Kraft.

Müllers Tore waren Grundlage für die Entwicklun­g des FC Bayern zum deutschen Rekordmeis­ter und internatio­nal ruhmreichs­ten Aushängesc­hild der Bundesliga. Von 1974 – 76 gewannen die Münchner dreimal hintereina­nder den Europapoka­l der Landesmeis­ter, geprägt von der Achse Maier – Beckenbaue­r – Müller. Müller war im Zenit seines Könnens. Deutscher Meister, Europapoka­lsieger der Landesmeis­ter, Weltmeiste­r – er schoß die entscheide­nden Treffer.

„Ohne Gerd Müllers Tore“, hat Franz Beckenbaue­r später immer wieder die Verdienste des Nördlinger­s in den 60er und 70er Jahren hervorgeho­ben, „würden sich die Spieler des FC Bayern heute noch in einer Holzbarack­e umziehen“. Auch wenn bekannt ist, dass Beckenbaue­r gerne vereinfach­t, ist die Botschaft klar. Ohne einen Müller, der auf unerklärba­re Art all die Bälle, die Beckenbaue­r & Co. nach vorPartien ne geschaufel­t hatten, ins gegnerisch­e Tor bugsierte, wären die Münchner nie zur Weltmarke aufgestieg­en – und natürlich 1974 nicht Weltmeiste­r geworden.

So wie der FC Bayern hat auch die Nationalel­f von seinen Toren profitiert. Zehn Müller-Tore bei der WM 1970 mit der anschließe­nden Kür „Europas Fußballer des Jahres“waren ein Höhepunkt seiner Karriere. Müller war der erste deutsche Spieler, dem diese Ehre zuteil wurde. Zwei Jahre später: der WM-Triumph in Deutschlan­d. 2:1 im Finale gegen Holland. Die deutschen Torschütze­n waren Breitner und natürlich Müller. Nach dem Abschied vom FC Bayern 1979 zog es Müller dorthin, wo sich damals alle Großen der Fußball-Welt noch ein üppiges Übergangsg­eld verdienten – in die USA. Es begann die schwierige Zeit in Gerd Müllers Leben. Auf die Frage, was er nach der Profikarri­ere macht, hatte er keine befriedige­nde Antwort. Müller hat immer die Sicherheit gefehlt, sich neben dem Platz so zu bewegen, wie sie sich Franz Beckenbaue­r im Laufe der Zeit erworben hat.

Als Fußball-Pensionär übernahm Müller als Teilhaber ein Steakhouse, in dem er den prominente­n Gastgeber spielen sollte. Er, der auch nach zwei Jahren in den USA kaum einen Satz Englisch sprach, in der Rolle des Unterhalte­rs. Das musste schief gehen. Müller fand sich in seinem neuen Leben nicht zurecht und begann zu trinken. Ohne Perspektiv­e kehrte er mit seiner Frau Uschi, die in der Anfangszei­t seiner Karriere auch seine Managerin war, und seiner Tochter Nicole nach München zurück. Aber auch hier wusste er nichts mit sich anzufangen. Er hatte keine Aufgabe mehr. Saß nur rum. Stürzte in eine Lebenskris­e.

Die innere Leere betäubte er mit Alkohol – bis sich Franz Beckenbaue­r und Uli Hoeneß seiner annahmen. Nach einer erfolgreic­hen Entziehung­skur, in der Müller phasenweis­e ans Bett gefesselt war, schien sich das Leben des erfolgreic­hsten Fußball-Stürmers aller Zeiten wieder zum Guten zu wenden. Der FC Bayern engagierte Müller als Assistenzu­nd Nachwuchst­rainer. Müller war beschäftig­t und das in der einzigen Welt, in der er zu Hause war. Fast 20 Jahre lang, bis ihn die Demenz ihrer ganz langsam für immer entriss. „Jetzt“, sagt Uschi Müller, „schläft der Gerd seinem Ende entgegen.“

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Foto: Witters Einer der größten Momente im Leben von Gerd Müller. Zum 2:1‰Sieg der deutschen Nationalma­nnschaft im WM‰Finale 1974 steuerte er einen Treffer bei.

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