Mittelschwaebische Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (93)

- © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

Manche Eltern kleiden ihre Jungen wie Mädchen und lassen ihnen die Haare wachsen, um den Teufel zu täuschen, weil er gern Jungen umbringt.

Meine Großmutter pflegte eine Wasserkann­e aus Ton zu zerbrechen, wenn lästige Gäste das Haus verlassen hatten, damit die Geister dafür sorgten, dass diese Gäste nie wieder zu Besuch kamen. Nie in der Nacht den Boden kehren, mahnte sie, weil das die Engel in ihrem Schlaf stört und sie dann das Haus verlassen.

Bevor wir das ABC und die Summe aus vier plus drei lernten, wussten wir, dass schwarze Katzen Teufelstöc­hter sind, die man meiden soll.

Am meisten Angst hatte ich als Kind vor dem Plumpsklo, das in einer dunklen Ecke des Hofes lag. Es wurde von mehreren armen Familien benutzt. In der Grube wohnten, wie unsere Nachbarin immer erzählte, die bösesten Geister. Eines Nachts musste ich dringend aufs

Klo. Meine Öllampe beleuchtet­e mir spärlich den Weg. Ich hockte über dem Loch, die Grube darunter war düster und stank, und ich hörte Geräusche, als würde sich jemand bewegen. Und plötzlich berührte mich etwas am nackten Hintern. Später wusste ich, es war ein verwirrter Falter, damals aber schrie ich laut auf und rannte davon.

Ich war fasziniert von jeder abergläubi­schen Handlung. Wenn ein Trauerzug an einem Haus vorbeiging, schüttete man Salzwasser vor die Tür. Es hieß, dass sich Tote in der ersten Nacht unter der Erde sehr einsam fühlen, und deshalb kommen die Seelen zurück, um jemanden zu holen, der ihnen Gesellscha­ft leistet. Das Salzwasser aber hindert sie daran. Bis heute kriege ich Gänsehaut bei der Vorstellun­g der ersten Nacht unter der Erde.

Das alles bestimmte unser Leben und Denken in einem Dorf am Ende der Welt vor sechzig Jahren, aber was ist mit dem Aberglaube­n heute?

Heute bietet ein Scharlatan seine

Dienste auf höchstem technische­n Niveau an. Er betreut seine abergläubi­sche Kundschaft über Facebook und Twitter. Man findet die Preisliste auf seiner Internetse­ite: Je nach Position zahlt man zwischen 10 und 100 Dollar, für den ersehnten Ehemann 100 Dollar, garantiert­e Potenz in der Hochzeitsn­acht 200 Dollar, absolute Herrschaft über den Ehemann 300 Dollar. Ein Imam schämte sich vor ein paar Wochen nicht einmal, im Radio zu behaupten, im Paradies spreche man Arabisch.

Schukri hat mir vor ein paar Wochen von einem raffiniert­en Trick eines Scharlatan­s berichtet. Eine wohlhabend­e Frau wollte unbedingt ein Kind. Nach vielen Ehejahren und zahllosen Medikament­en war sie sehr verzweifel­t. Sie suchte einen Scheich auf, den ihre Nachbarin empfohlen hatte.

Der Scheich war ein athletisch­er junger Mann. Er fragte sie nach Namen, Alter und auch nach ihrer Adresse und schickte sie dann höflich weg, da er sich mit den Geistern beraten wollte. Sie sollte nach einer Woche wiederkomm­en. Sie kam und war erstaunt, wie viel er inzwischen über sie wusste. Er fragte nach ihrer kranken Mutter und ob sie wisse, dass ihr Mann mehrere Geliebte habe. Das wusste die Frau, aber sie erschrak, als der Scheich ihr auch die Namen ihrer Freundinne­n und Feindinnen nennen konnte.

Sie wusste nicht, dass der Scheich einen befreundet­en Privatdete­ktiv beauftragt hatte, sie auszuspion­ieren.

Die Frau war ihm nun vollkommen hörig und ergeben. Er verlangte eine große Summe Geld und empfahl ihr, vor dem Sexualverk­ehr mit ihrem Mann bestimmte Sprüche aufzusagen. Als das nichts half, behauptete der Scharlatan, er müsse ihr Inneres erkunden und es den Geistern vermitteln. Sie solle am Freitag gegen elf Uhr kommen, dann sei seine Seele nach dem Freitagsge­bet rein und er könne diese heikle Aufgabe erfolgreic­h lösen. Die Frau kam am Freitag schon um viertel vor elf. Sie solle sich im Nebenraum ausziehen und auf das Bett legen, befahl ihr der Scheich fast unbeteilig­t und kehrte zu seinem Gebet zurück. Der Nebenraum war dunkel. Eine kleine Lampe zeigte ihr den Weg zum Bett. Weihrauch stieg von einer großen kupfernen Schale auf. Die Glut zischte. Die Frau war wie benommen, als der Scheich nackt hereinkam. Er beruhigte sie, dass er nur der Vermittler zwischen den Geistern und ihrem Inneren sei. Dann drang er in sie ein und führte mit den Geistern ein Gespräch in einer Sprache, die sie nicht verstand. Sie spürte ihre Lust, denn anders als ihr Mann war der Scheich raffiniert zärtlich und rücksichts­voll. Sie genoss den Orgasmus.

„Mein Herr, wenn ein primitiver Mensch uns beobachtet hätte, würde er Ihre Vermittlun­g zwischen den Geistern und meinem Innern Ficken nennen“, sagte sie fast schüchtern.

„Das sah nur so aus. Denn in Wirklichke­it haben die Geister mit dir geschlafen. Sie haben jede meiner Bewegungen und Handlungen dirigiert. Ich bin nur ihr InstrumeUn­d siehe da, die Frau wurde schwanger. Bald machte sie unter ihren wohlhabend­en Freundinne­n Werbung für den Scharlatan, und der Scheich konnte sich vor Anfragen kaum noch retten.

Als ich diese Geschichte Mancini erzählte, lachte er herzlich und konnte gar nicht mehr aufhören.

Ich rief Nariman heute an, nur um ihr Lachen zu hören. So ein Lachen gibt es nur einmal auf der Welt. Und wenn sie lacht, fühle ich Kraft in mir aufsteigen. Narimans Liebe ist meine Tankstelle. Sie füllt mich mit Hoffnung.

Man hat uns alle unsere Sachen zurückgebr­acht, bis auf meine Dienstpist­ole und Mancinis Fotoappara­t. Mancini fragte Scharif in scheinbar gleichgült­igem Tonfall nach dem Grund. Scharif antwortete – wie immer – sehr direkt. Die Pistole habe er aufbewahre­n lassen aus

Sorge um meine Sicherheit. Er kenne meine Wutanfälle und fürchte, dass ich in einem unbedeuten­den Streit die Nerven verlieren, zur Pistole greifen und so mein Leben gefährden könne. Der Fotoappara­t werde auf Geheiß des Geheimdien­stchefs aufbewahrt, bis wir das Gebiet verlassen. Dies sei notwendig für die Sicherheit der Kämpfer. Fotografie­ren ist strengsten­s verboten.

Ich habe mit Major Suleiman telefonier­t, ohne auch nur ein Wort über unsere Festnahme und Scharifs Gastfreund­schaft zu verlieren. Nach ein paar Sätzen bemerkte ich Atifs schlechte Laune. Ich fragte ihn nach dem Grund. Er erzählte, dass der Präsident dafür gesorgt hatte, seinen, Atifs, Bruder aus dem Gefängnis freizulass­en. Aber am selben Abend noch sei dieser in einem Nachtlokal gewalttäti­g geworden. Er hatte eine Tänzerin niedergesc­hlagen, die ihn nicht begleiten wollte, und den Barkeeper lebensgefä­hrlich verletzt, der ihr zu Hilfe eilte.

„Willst du auf mich hören?“, fragte ich.

„Ja, gern“, antwortete Suleiman. Seine Stimme klang müde.

„Geh in die Offensive, suche den Präsidente­n auf und bitte ihn, deinen Bruder im Gefängnis schmoren zu lassen, bis er sein verdientes Urteil bekommt.

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