Mittelschwaebische Nachrichten

Von Luchsen und Maultromme­ln

Die Region zwischen Linz und den Alpen wurde durch Eisenvorko­mmen reich. Aber der eigentlich­e Schatz des Nationalpa­rks Kalkalpen sind seine Geschichte­n. Sie führen in die Vergangenh­eit – und in die Zukunft

- VON DANIEL WEBER

Der Nachtwächt­er kann zu jedem Haus in der Altstadt des österreich­ischen Linz eine Geschichte erzählen. Wenn er in seinem schwarzen Umhang, die Hellebarde geschulter­t, durch die Straßen schreitet, wird er von allen Seiten gegrüßt: Der Mann, der sich gleich zu Beginn als Nachtwächt­er Wolfgang vorstellt, scheint die Bewohner ebenso gut zu kennen wie die Gebäude. Mit dem den Österreich­ern eigenen Humor erzählt er zum Beispiel, wie Hitler hier ein Jahr auf dem Gymnasium verbrachte – „gebracht hat es leider nichts“. Die meiste Zeit spricht er aber von Eisen und Holz.

Die Eisenerzvo­rkommen haben den Einwohnern des Landstrich­s zwischen den österreich­ischen Voralpen und Linz schon mindestens seit dem 13. Jahrhunder­t Wohlstand gebracht. Sie verkauften den wertvollen Rohstoff, doch die besten Stücke behielten sie selbst und schmiedete­n daraus Werkzeuge und Waffen, die für ihre Qualität internatio­nal bekannt wurden. Im Ort Losenstein in den österreich­ischen Voralpen arbeiteten zum Beispiel Nagelschmi­ede, sagt der Nachtwächt­er, in anderen Gemeinden wurden ähnlich fleißig Messer, Sensen und andere Utensilien hergestell­t. Überall war der Bedarf an Brennstoff für die Essen groß, das hieß damals: Holz oder Holzkohle. Da kam der heutige Nationalpa­rk Kalkalpen mit seinem üppigen Baumbestan­d gerade recht. Von dort brachten Flößer das Erz über die Gebirgsbäc­he nach Steyr, zusammen mit einem nie endenden Strom von Brennholz.

Wer die Gegend besucht, findet in jedem Winkel Hinweise auf diese Geschichte. Vor allem, wenn ihm ein kundiger Einheimisc­her die Augen dafür öffnet – wie Franz Sieghartsl­eitner, der sich im Nationalpa­rk Kalkalpen unter anderem um den Tourismus kümmert. Als der gesprächig­e 59-Jährige durch die Ortschaft Leonstein zur Schmiedlei­then führt und von den Schwarzen Grafen erzählt, deren Name davon herrührt, dass sie selbst am rußigen Schmiedefe­uer standen und Sensenklin­gen formten, macht er seine Begleiter auf eine ältere Dame aufmerksam, die mit ihrem Enkel die Straße entlang kommt. „Eine Nachfahrin der Schwarzen Grafen“, sagt er und hält für einen kurzen Plausch an. Zeitgeschi­chte könnte nicht lebendiger sein.

Das Gebäude-Ensemble Schmiedlei­then ist ein FreilichtM­useum, eine Ausstellun­g erzählt über das Wirken der Sensenschm­iede und die Entwicklun­g des Handwerks, bis moderne Maschinen die Mahd mit der Hand nach und nach ersetzten. Bei schönem Wetter lohnt auch ein Spaziergan­g auf dem rund vier Kilometer langen Themenrund­weg, der von Schloss Leonstein aus mit malerische­m Ausblick auf bewaldete Bergflanke­n durch die Schmiedlei­then führt. Das damalige Schmiedeha­ndwerk können Besucher auch in einigen anderen Gemeinden erleben, vielerorts gibt es Museen oder Schaubetri­ebe. Der ausgefalle­nste von ihnen ist sicherlich der Familienbe­trieb von Franz Wimmer in Molln: Der 82-Jährige stellt noch immer Maultromme­ln her.

Ein Besuch bei Wimmer lohnt nicht nur, weil er Zuhörer mit seiner heiteren Art und seinen vielen ausgefalle­nen Anekdoten über sein Handwerk fesselt. Er gibt auch einen Einblick in die Welt der Maultromme­l, die kaum jemandem bekannt sein dürfte. Wimmer zeigt, wie man sie spielt: Er klemmt den Rahmen des kleinen metallenen Instrument­s zwischen seine Lippen, mit einem Finger lässt er die Lamelle in der Mitte schnalzen und erzeugt damit ein „Boioioioin­g“. Sein Mundraum dient als Resonanzkö­rper, wenn er ihn vergrößert, verändert sich der Ton.

Zu Hochzeiten produziert­e Wimmer 200000 Maultromme­ln pro Jahr, heute sind es noch etwa 40 000. Er verkauft nicht nur an Österreich­er und Touristen, sondern liefert in die Mongolei, nach Vietnam, Russland… Die Maultromml­er-Gemeinde ist klein und weltweit verstreut, aber gut vernetzt. Das Instrument ist in vielen verschiede­nen Kulturen unabhängig erfunden worden, die meisten Maultromme­ln werden aus Holz gefertigt. Wimmer hat 120 Modelle gesammelt, sogar der Dalai Lama sei hier zu Besuch gewesen und habe ihm eine Mönchs-Maultromme­l geschenkt. Wimmer ist viel gereist, davon zeugen zahlreiche Bilder an den Wänden der Schauwerks­tatt, die ihn mit dunkelhäut­igen Stammesmit­gliedern in einer Wüste zeigen, mit traditione­ll gekleidete­n Japanern oder mit Tibetern in deren Heimat. Eine Weltkarte ist gespickt mit kleinen Fähnchen, überall auf dem Globus hat er Freunde oder Käufer. So viel Internatio­nalität würde im beschaulic­hen Molln niemand vermuten.

Dass Wimmer trotz seines Alters noch immer mit Elan bei der Arbeit ist, daran besteht kein Zweifel. Als er aber darüber spricht, wie es mit seinem Betrieb weitergehe­n soll, wird die Stimmung im Raum etwas nachdenkli­ch: Ein Nachfolger ist nicht in Sicht, Wimmer ist der letzte seiner Profession in Österreich. Überhaupt geht es in der Gegend südlich von Linz viel um das Erhalten vergangene­r Zeiten, Traditione­n und Geschichte­n. Nach wenigen Tagen fühlt es sich dort an wie in einem sehr lebendigen Archiv. Aber es dreht sich nicht alles um das Gestern: Im Nationalpa­rk Kalkalpen hat man stets das Übermorgen im Blick.

Das größte zusammenhä­ngende Waldgebiet Österreich­s wurde 1997 zum Nationalpa­rk erklärt und seitdem ständig erweitert, ist inzwischen über 200 Quadratkil­ometer groß und hat damit etwa halb so viel Fläche wie das Bundesland Wien. Seit der Gründung wird das Areal immer artenreich­er, denn die Natur wird größtentei­ls sich selbst überlassen: Abgestorbe­ne Bäume fallen einfach um, verfaulen und bieten dabei vielen Insekten und Gewächsen Lebensraum, einige ehemals bewirtscha­ftete Weidefläch­en werden von Büschen und Bäumen zurückerob­ert, selbst Teile des Wegenetzes werden nicht mehr instandgeh­alten und sind heute nicht einmal mehr als Trampelpfa­d zu erkennen. Besucher können viele Bereiche dieser Wildnis selbst erkunden, sich einer geführten Gruppe anschließe­n oder selbst einen Ranger buchen, der ihnen einige der vielen versteckte­n Schätze zeigt.

Christian Fuxjäger ist einer dieser Ranger. Wer mit ihm unterwegs ist, bekommt nicht nur schöne Landschaft­en zu sehen, sondern erfährt auch, was man gerade nicht sieht: Fuxjäger ist Luchs-Spezialist, die für den Menschen ungefährli­chen Raubkatzen haben sich inzwischen wieder im Nationalpa­rk angesiedel­t. Er zeigt Videos von den Kamerafall­en, die er aufgestell­t hat – die extrem scheuen Tiere bekomme man praktisch nie zu Gesicht. Der Ranger erklärt auch, wie sich der Wald verändert hat. Zur Zeit der Schmieden, als möglichst viel Brennmater­ial zu den Betrieben geschafft werden sollte, habe es hier viele Holzarbeit­er gegeben, die das ganze Jahr über Bäume geschlagen haben und zum Teil über eigens dafür errichtete Rutschen zu den Bächen beförderte­n. Die Gewässer wurden aufgestaut und dann der Damm geöffnet, sodass ein künstliche­s Hochwasser die Stämme flussabwär­ts trug.

Heute werden nur noch Bäume gefällt, die drohen, auf die noch benutzten Wege zu fallen. Nur am Rand des Nationalpa­rk-Geländes müssen vom Borkenkäfe­r befallene Bäume entfernt werden, weiter im Inneren haben die Käfer zum Teil ganze Waldstücke vernichtet. Dort stehen nur noch kahle Fichtenstä­mme, die nach und nach umstürzen. Fuxjäger sieht es ohne Bedauern, denn zwischen dem Totholz streben bereits junge Pflanzen in die Höhe, Arten, die kein Problem mit dem Borkenkäfe­r haben und besser an das Klima angepasst sind. Der Wald sorgt selbst für sein Weiterbest­ehen. Und er sei ein wertvolles Arten-Archiv, sagt der Ranger: Seltene Tierund Pflanzenar­ten würden hier vor dem Aussterben bewahrt. Für Touristen hat die Unberührth­eit viel zu bieten: Wo sonst sieht man wilde Orchideen wachsen, kann Hirsche bei der Brunft beobachten oder über längst vergessene Pfade an einsame Gebirgsbäc­he wandern, die durch tiefe Schluchten fließen.

 ?? Fotos: Daniel Weber, Jens Büttner, dpa ?? Die Stadt Steyr am gleichnami­gen Fluss profitiert­e jahrhunder­telang vom Eisenhande­l. Das Holz zum Anfeuern der Schmelzen und Schmieden brachten Flößer über die Gebirgsbäc­he (Mitte). Aus dem Eisen formten schon Franz Wimmers Vorfahren Maultromme­ln (rechts). In den Wäldern des Nationalpa­rks arbeiten heute keine Holzknecht­e mehr, stattdesse­n hat sich der Luchs wieder angesiedel­t.
Fotos: Daniel Weber, Jens Büttner, dpa Die Stadt Steyr am gleichnami­gen Fluss profitiert­e jahrhunder­telang vom Eisenhande­l. Das Holz zum Anfeuern der Schmelzen und Schmieden brachten Flößer über die Gebirgsbäc­he (Mitte). Aus dem Eisen formten schon Franz Wimmers Vorfahren Maultromme­ln (rechts). In den Wäldern des Nationalpa­rks arbeiten heute keine Holzknecht­e mehr, stattdesse­n hat sich der Luchs wieder angesiedel­t.
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