Mittelschwaebische Nachrichten
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (94)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli giösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Geh persönlich zu der Tänzerin und zur Familie des verletzten Barkeepers und bitte sie, mithilfe eines guten Anwalts Anzeige gegen deinen Bruder zu erheben. Von sich aus werden sie den Bruder von Major Suleiman, einen Cousin des Präsidenten, nicht anklagen. Niemand wird es ohne deine Unterstützung wagen.“
„Mensch, Barudi, den ersten Gedanken habe ich auch schon gehabt, und der zweite ist genial. Ich werde deinen Rat befolgen, ich werde ihnen sogar meinen Anwalt empfehlen. Er ist ebenfalls ein Cousin des Präsidenten und kann meinen Bruder nicht ausstehen. Ich muss diesen Mistkerl stoppen, sonst wird er mich noch ruinieren. Ich danke dir. Viel Spaß in den Olivenhainen des Nordens“, fügte er noch hinzu. Ich grinste.
Ich rief meinen Assistenten Nabil an. Dieser berichtete, die Rundum-die-Uhr-Überwachung des Scheichs habe noch keine nützlichen Hinweise ergeben. Nur, dass er ein
Verhältnis mit seiner Sekretärin hat. Das interessiert mich aber nicht.
Nabils neuerliche Recherchen zu Bischof Tabbich und sein Gespräch mit ihm haben nichts anderes ergeben, als dass der Bischof ein sanfter Mann ist, der zwar dem Besuch des Kardinals sehr kritisch gegenüberstand, ihn aber dennoch sehr schätzte. Beinahe hätte ich es vergessen. Wir, Scharif, Mancini und ich, debattierten lange über die Entwicklung im Orient. Ich kann nicht mehr alle Argumente wiedergeben, aber es kristallisierte sich ein Bild heraus, das mir die Entwicklung in dieser Region erklärt: Der Ausverkauf der arabischen Länder durch einige wenige, die verantwortungslos alle Ressourcen verkaufen, egal an wen, Hauptsache der Betrag für die eigene Tasche stimmt. Eine unvorstellbare Menge Geld wurde für Prachtpaläste und Prestigeprojekte aus dem Fenster geworfen. Gaddafi hat in der Wüste Tomaten anbauen lassen, von denen das Kilo etwa fünfzig Dollar kostete. Die arabischen
Herrscher haben eine unsagbare Menge an Gold und Juwelen auf ihren Konten und in ihren Depots im europäischen Ausland liegen, und das Volk lebt in bitterem Elend. Eines Tages werden diese Konten von den Amerikanern oder Europäern beschlagnahmt werden. Gründe dafür wird man immer finden.
Vernünftige und tapfere Reformer haben angesichts der Ungeduld und Rachefantasien der Elenden keine Chance. Und genau hier kommen die Waffen ins Spiel: Waffen wirken auf die Jugend wie ein Allheilmittel, deshalb schließen sich massenhaft junge Menschen den Kämpfern an. Sie wollen alles verändern, mit Gewalt und schnell. Deshalb scheitern sie. Die Strukturen innerhalb und außerhalb einer Kampfgruppe sind die gleichen. Sie sind menschenverachtend und reaktionär. Scharifs „Islamische Republik“ist keinen Deut besser oder menschenwürdiger als das Regime in Damaskus oder Kairo oder Riad.
Mancini sagte vorhin zu mir: „Fanatiker kennen keinen Zweifel, deshalb sollte man Kindern in der Schule von der ersten Klasse an die Philosophie des Zweifelns beibringen.“
36. Die Versklavung der Befreiten
Als Barudi am frühen Morgen aufwachte, war Scharif nach Aussage des Wächters schon auf eine Mission in den Westen gefahren. Mehr erfuhr er nicht. Er fühlte, er brauchte frische Luft, und nahm es in Kauf, unter Bewachung spazieren zu gehen. Allerdings stellte er die Bedingung, dass ihn nur Syrer begleiteten. Der Emir der Wächter war ein Damaszener aus dem Midan-Viertel. Er lächelte Barudi an. „Herr Nachbar, Ihr Wunsch ist mir Befehl“, heuchelte er untertänig.
Barudi ging raschen Schrittes, und je weiter er sich von dem Gebäudekomplex entfernte, desto friedlicher wurde die Umgebung. Die Luft war an diesem sonnigen Wintertag erfüllt von einem seltsam aromatischen Duft nach Thymian, wilder Minze und Harz, der Barudi an seine früheren Besuche vor über vierzig Jahren in der Gegend erinnerte, als er noch in Aleppo Jura studiert hatte. In der Ferne lagen Olivenhaine, so weit das Auge reichte, ein grünsilbernes Meer, und dazwischen verstreut kleine, leuchtend grüne Pinieninseln.
Die Gegend wurde seit dem dritten Jahrtausend vor Christus erwähnt, weil die berühmte Seidenstraße hindurchführte. Nicht nur die Handelskarawanen, sondern auch alle Eroberer aus dem Norden kamen durch diese Region und gründeten kleine Städte oder Dörfer, die zum Teil noch heute bestehen. Hier haben Archäologen aus Rom unter Leitung von Paolo Matthiae die legendäre Stadt Ebla entdeckt, die im dritten Jahrtausend vor Christus ein mächtiger Stadtstaat war und das Gebiet zwischen Euphrat und Mittelmeer beherrschte. In einem Archiv lagern zwanzigtausend Tontafeln mit Keilschrift, Zeugen einer hochentwickelten Kultur. Barudi ging fast eine Stunde und erreichte das Dorf Kulmakan. Er freute sich, dass am Dorfplatz bereits ein Café geöffnet hatte. Er bestellte ein Käsesandwich und Tee für sich und die drei Wächter, die an einem Tisch einige Meter weiter Platz nahmen. Gemächlich aß er sein Brot. Kurz darauf war Lärm zu vernehmen. Schwarzgekleidete Soldaten führten drei Gefangene zum Dorfplatz, gefolgt von schreienden Frauen und Kindern. Die Soldaten bildeten einen Kreis, in dessen Mitte ein Mann vor den knienden Gefangenen ein Urteil verlas, das Barudi wegen des Lärms kaum verstand. Soweit er es sich zusammenreimen konnte, ging es bei zwei Bauern ums Rauchen und beim dritten um eine Flasche Wein, die man bei einer Durchsuchung in seinem Haus gefunden hatte. Der Richter hob genervt die Hand, und seine Soldaten brüllten die Zuschauer an, endlich ruhig zu sein. Eine bedrückende Stille trat ein. Barudi sprang auf, ihm folgten wie ein Schatten die drei Wächter.
„Was machen Sie da?“, rief er dem Richter zu. Dieser beachtete ihn nicht, gab stattdessen einem großen Mann mit Peitsche ein Zeichen. Dieser begann daraufhin, die Männer, einen nach dem anderen, auszupeitschen.
„Was machen Sie da?“, schrie Barudi erneut und schob sich durch die versammelten Menschen.
Als er den ersten Soldaten erreichte, richtete dieser sein Gewehr auf ihn. „Noch einen Schritt und du bist tot“, sagte er mit unbewegtem Gesicht. Die drei Wächter, die Barudi gefolgt waren, zerrten ihn zurück. In diesem Augenblick schrie einer der Gepeitschten in die bedrückende Stille hinein: „Das soll eine Befreiung sein?“Seine Stimme klang bitter. „Der Diktator“, rief er nach zwei weiteren Hieben, „hat uns gequält und ihr quält uns, wohin sollen wir fliehen? Gott soll euch bestrafen.“Er weinte laut.
„Halt den Mund, Sünder“, rief der Richter kalt.
Die Wächter hatten Barudi inzwischen von der Menge entfernt. „Entschuldigen Sie“, sagte einer der drei, „aber die Situation war lebensgefährlich, und das dürfen wir nicht zulassen. Befehl unseres Emirs.“