Mittelschwaebische Nachrichten
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (95)
BIn die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli giösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
arudi betrachtete das Gesicht des Mannes, ein blasser Schuljunge mit zu viel Bart, dachte er und verließ mit seinen Wächtern den Dorfplatz.
Als er zum Haus zurückkehrte, frühstückte Mancini bereits. „Wo warst du?“
„In der Hölle“, sagte Barudi und nahm das Teeglas entgegen, das ihm Mancini reichte.
„Iss was“, ermunterte Mancini ihn.
„Mir ist nicht danach zumute.“Barudis Handy klingelte. Es war Major Suleiman. Der Privatsender Dunia hatte ein zweites Bekennerschreiben der Islamisten gemeldet, in dem wiederum genaue Informationen über die Leiche des Kardinals erwähnt wurden. Die konnte nur ein kleines Team in der Kriminalpolizei kennen, meinte der Major.
„Das stimmt nicht“, widersprach Barudi, „inzwischen wissen alle, die mit dem Fall zu tun hatten, Bescheid. Wo das Leck ist, kann man kaum feststellen. Es kann bei uns, in
der Gerichtsmedizin, im Geheimdienst, im Innen- wie im Außenministerium, in der italienischen oder vatikanischen Botschaft sein. Am besten ignorieren wir die Mitteilung und arbeiten weiter“, sagte Barudi. Zu seiner Überraschung aber war sein Chef gänzlich anderer Meinung.
„Ja, du machst mit deinem Kollegen weiter wie bisher und wie es dir gefällt. Ich aber werde hier eine Untersuchung in Richtung Islamisten durchführen. Eine gemischte Truppe wird mir direkt unterstellt und soll sich ausschließlich mit den Islamisten beschäftigen. Gemischte Truppe bedeutet, drei der Männer sind vom Geheimdienst, Abteilung Islamisten, und drei Assistenten hat mir der Innenminister aus der Abteilung „Bekämpfung krimineller Gruppen“zugeteilt. Übrigens, der Italiener darf davon nichts wissen, damit wir uns verstehen. Das kam von oben.“
„Meinst du von Gott?“, fragte Barudi giftig.
„Barudi, mein lieber Freund. Es ist mir nicht nach Scherzen zumute. Eines Tages kann ich dir alles erzählen, aber vertraulich.“
Barudi war sprachlos. All das hatte Suleiman heimlich hinter seinem Rücken eingefädelt, er hatte sich sogar mit dem Geheimdienst und mit dem Innenminister verschworen, den er angeblich nicht ausstehen kann! Wahrscheinlich fügte und krümmte er sich vor dem Geheimdienst aus purem Opportunismus. Barudi verabschiedete sich förmlich und legte auf.
Sein erster Gedanke war, das Handtuch zu werfen. Er verfluchte sich, Suleiman, das Land und den Himmel, dann aber beruhigte er sich. Ein anderer Gedanke war ihm gekommen, und er wollte offen mit Mancini darüber reden. Wenn dieser beschloss, Syrien auf der Stelle zu verlassen, war der Fall erledigt.
„Warum ärgerst du dich? Das ist doch gut“, sagte Mancini, nachdem Barudi ihm von seinem Verdacht erzählt hatte. „Für uns beide ist es schwer, in die geheimen Islamistengruppen vorzudringen. Lass ihn ruhig zusammen mit dem Geheimdienst im Sumpf der Politik, der Mafia und der Sippen wühlen. Es kann uns nicht schaden, wenn wir neue Erkenntnisse bekommen. Ich muss sagen, auch ich habe einen gewissen Verdacht. Nicht gerade
Scharif, aber eine andere rivalisierende islamistische Gruppe versucht vielleicht, durch solch spektakuläre Aktionen bekannt zu werden.“Mancini dachte kurz nach. „Und es besteht auch die Möglichkeit, dass Suleiman unter Druck steht und aus Solidarität zu dir die Führung dieser bescheuerten Truppe an sich gezogen hat, damit der Geheimdienst oder sein Intimfeind, der Innenminister, keine Lügen verbreiten kann. So gesehen wäre sein Handeln lobenswert. Das kenne ich aus Italien. Seine Entscheidung, dieser Truppe vorzustehen und uns Rückendeckung und freie Hand zu geben, ist lebensgefährlich. Auch das kenne ich aus Italien.“
Barudi war sprachlos und nickte nur. Er musste zugeben, dass seine Reaktion gegen Suleiman eher seiner Abneigung gegen den Geheimdienst und die herrschende Partei entsprang als seiner Erfahrung als Kriminalist.
„Du bist ein kluger Teufel“, sagte er, und in seiner Stimme lag tiefe Dankbarkeit.
„Und du bist ein Heiliger, bald besetzen deine Anhänger einen Berg für dich, und ich kassiere von den armen Seelen, die dich aufsuchen, das Geld. Und jetzt iss was, sonst werde ich sauer.“
Barudi lachte und spürte plötzlich seinen Hunger. Er griff nach einem
Brot, und Mancini grinste. Und dennoch, wie die Borsten eines Igels stachen Barudis üble Vorahnungen gegen seine Schädeldecke.
37. Alis Berichte
Gegen elf Uhr setzten sich Barudi und Mancini an Barudis Laptop. Assistent Ali hatte sich per E-Mail gemeldet: Ich habe bei Gott eine Verlängerung des Tages auf 36 Stunden beantragt. Antrag wurde abgelehnt. Liebe Grüße, Ali.
Der Anhang enthielt zwei separate Berichte: „Die Familie der Heilerin Dumia“und „Die Familie des Kardinals Buri“.
„Ali ist ein tüchtiger und zuverlässiger Kerl“, sagte Mancini anerkennend.
Barudi nickte und war so von Dankbarkeit erfüllt, dass er sein Handy nahm und seinen Assistenten anrief. „Ich wollte dir danken… Nein, noch nicht, wir wollen gerade anfangen, aber ich dachte, bevor mich der Tag auffrisst, sage ich dir ein freundliches Wort … Ja, der Italiener bringt mir Benehmen bei“, schloss er lachend.
„Womit sollen wir anfangen?“, fragte Mancini.
„Mit dem Bericht über den BuriClan“, antwortete Barudi und begann vorzulesen: „Der Berater und langjährige Freund des Papstes,
Kardinal Buri, ist Halbsyrer. Sein Vater stammt aus Derkas, seine Mutter war Deutsche. Buris Vater studierte Ende der zwanziger Jahre Medizin in Paris und heiratete dort die deutsche Medizinstudentin Marianne Förster, die schwanger von ihm war.
Gemeinsam kehrten sie nach Syrien zurück. Marianne brach ihr Studium ab. Sie wurde von der Familie Buri nie akzeptiert. Sie brachte drei Kinder zur Welt: Georg, Samia und Theophil. Ein Jahr nach Theophils Geburt, 1946, starb sein Vater bei einem Autounfall. Der Hass der Familie wurde für Marianne unerträglich.
Anlässlich eines Besuchs bei ihrer Familie in Hamburg wollte sie mit den Kindern flüchten, aber die Sippe erlaubte ihr nur, das Baby Theophil mitzunehmen. Georg und das kleine Mädchen Samia sollten in Syrien bleiben. Marianne kehrte nie zurück.
In Deutschland nahm sie ihr Studium wieder auf und wurde Ärztin, hatte aber immer Pech mit Männern. Theophil wuchs in einer gestörten Beziehung zu seiner Mutter auf. Er schämte sich für ihren flatterhaften Lebenswandel und ihre Affären und hatte zugleich Mitleid mit ihr. Mit neunzehn begann er, in Münster Theologie und Philosophie zu studieren.