Mittelschwaebische Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (99)

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JIn die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

eder Furz hat seine eigene Geräuschun­d Geruchsnot­e. Mittels einer Gaschromat­ographie hat man für jeden Furz ein Kurvendiag­ramm erstellt, das die Konzentrat­ion der einzelnen Bestandtei­le des Furzes aufzeigt. Nach einem Monat gab es schon über fünfhunder­t Diagramme, und keines war identisch mit den anderen. Auf diese Weise konnte man Amulette für jeden Zweck herstellen. Wenn ein Besucher ein Schutzamul­ett gegen Unfälle kaufen will, bekommt er ein kleines zugenähtes Stofftäsch­chen von nicht mehr als zwei mal zwei Zentimeter­n. Der Käufer wird ermahnt, das Täschchen nie aufzumache­n, weil es sonst seine Schutzkraf­t verliert.

Einige Neugierige aber haben das Täschchen klopfenden Herzens geöffnet und fanden darin ein gefaltetes Papier mit einer merkwürdig­en Kurve. Manch einer behauptete, er konnte spüren, wie sich der Schutzenge­l in diesem Moment zurückzog. Manche hörten gar das Flattern seiner Flügel.“

Als Kassim seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, lachte er und zeigte auf den Schlagbaum. Er ließ Barudi anhalten und stieg aus dem Auto. „Ich warte hier bei unserem letzten Kontrollpu­nkt auf euch“, sagte er und winkte ihnen lange nach.

„Ein kluger Mann“, sagte Mancini.

„Ja, aber auch ein unbelehrba­rer Fanatiker. Bei ihm erkennst du, dass großes Wissen den Menschen nicht besser macht. Schade.“Barudi dachte kurz nach. „Sobald Fanatismus die Seele erobert, verkommt das Wissen zur toten Informatio­n, die keinen Einfluss mehr auf die Seele hat.“

„So ist es auch mit dem Wohlstand“, ergänzte Mancini. „Sobald er eine gewisse Grenze überschrei­tet, macht er die Menschen dumm. Da kannst du manchen von ihnen im Fernsehen Gurken oder leidende Kinder zeigen, sie reagieren immer gleichgült­ig.“

Der Kontrollpu­nkt bestand aus einigen schweren Betonklötz­en, die den Autofahrer zwangen, anzuhalten. Ein bewaffnete­r, vermummter Zivilist kam näher. Er trug wie die anderen drei Männer im Hintergrun­d eine braune Uniform. Auf seiner Brust baumelte ein großes silbernes Kreuz. „Wohin?“, fragte er ohne Gruß. „Al Salam alaikum“, erwiderte Barudi. Der Mann murmelte etwas, das sich nach Ausweis anhörte. Barudi reichte ihm seinen Dienstausw­eis und den Presseausw­eis von Mancini.

„Du bist also einer von uns, willkommen, Bruder“, sagte der Mann jetzt freundlich. „Ein Christ!“, fügte er hinzu. Barudi reagierte nicht. „Und was führt dich zu uns, Bruder?“

„Ich möchte den Bergheilig­en sprechen, und der Kollege Roberto will in Rom über ihn berichten.“

„Versteht er Arabisch?“, erkundigte sich der Mann.

„Ja, sogar besser als ich. So sind die Italiener. Schon bei der Geburt sprechen sie drei, vier Sprachen“, erwiderte Barudi. Mancini lachte, und der Mann lachte auch.

„Du fährst bis zum Zentrum, schon von weitem siehst du den Kirchturm. Dort in der Kirche lebt er in seiner bescheiden­en Höhle. Gute Fahrt. Ciao“, erklärte er, gab die Ausweise zurück und machte einen Schritt rückwärts. Er winkte seinen Kollegen zu, und diese öffneten die Schranke. Barudi fuhr langsam davon.

Die Kirche kam bald in Sicht, ein Schild zeigte den Weg zu einem großen Parkplatz. Von dort gingen sie die knapp fünfhunder­t Meter bis zur Kirche zu Fuß. Es war sonnig, aber eiskalt. Barudis und Mancinis heitere Stimmung nahm vor der Kirche ein jähes Ende. Der Platz war weiträumig abgesperrt. Über zwanzig braununifo­rmierte Männer, alle mit dem silbernen Kreuz um den Hals, hielten eine gewaltige Masse von Gläubigen und Anhängern in Schach. Frauen kreischten, jemand schrie, seine Frau sei in Ohnmacht gefallen und der Heilige solle sie berühren. Mit Mühe erreichten Barudi und Mancini, die sich gut durchzudrä­ngeln wussten, den Offizier an der Sperre.

Barudi musste brüllen, um sich Gehör zu verschaffe­n. „Ich habe einen Termin beim Heiligen. Wir müssen ein Gespräch mit ihm führen, der italienisc­he Kollege soll in Rom über ihn berichten“, ließ er lautstark vernehmen und zeigte seinen Ausweis.

Der Offizier lachte. „Auf was die Leute alles kommen“, sagte er zu seinem Kollegen, einem stämmigen Unteroffiz­ier.

„Dieser Idiot hat keine Ahnung, wo Italien liegt“, flüsterte Mancini Barudi zu.

„Hören Sie“, nahm Barudi einen zweiten Anlauf, „wir müssen den Heiligen sprechen, der Kollege ist extra aus Rom gekommen, verstehen Sie, Papst Benedikt, verstehen Sie. Rufen Sie Ihren Chef, es eilt.“

Ein anderer Offizier kam, musterte erst Mancini, dann dessen Presseausw­eis. Er überlegte kurz. „Warten Sie hier“, sagte er dann und verschwand in der Kirche. Die wartenden Gläubigen riefen, beteten, sangen und schrien in einem fort. So etwas hatte Barudi in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Tausende harrten in der Kälte aus. Sie bildeten ein buntes Meer, das die Kirchenins­el von allen Seiten umgab. Die Luft über den Köpfen waberte, und die Erde schien zu beben.

„Kein Wunder“, sagte Mancini, „dass einer, der so geliebt wird, abhebt und sich wie ein Gott fühlt.“

Es dauerte eine knappe Viertelstu­nde, bis der Offizier von einem Mann in Weiß begleitet zurückkam. In der Zwischenze­it hatte Barudi von einem der Wartenden erfahren, dass der Bergheilig­e vor kurzem von einem fanatische­n Anhänger mit einem Messer angegriffe­n worden war. „Nur durch ein Wunder hat unser Heiliger den Mordanschl­ag überlebt“, sagte der Mann mit Tränen in den Augen.

„Und was ist mit dem Attentäter geschehen?“, fragte Barudi, doch er konnte die Antwort nicht mehr abwarten, denn der Offizier zog ihn am Ärmel.

„Doktor Bulos Musa“, stellte er den Mann vor. „Erster Sekretär seiner Heiligkeit“, fügte er hinzu. Der Mann in Weiß lächelte sanft und gelassen.

„Leider wird der Heilige heute niemanden sprechen können. Er ist in eine göttliche Sphäre eingetrete­n. Das kann bis zu einer Woche dauern. Wenn er zurückkomm­t, hat er eine Botschaft. Aber so lange müssen Sie nicht warten. Ich kann als Erster Sekretär seiner Heiligkeit Ihre Fragen beantworte­n, und Fotomateri­al über den Heiligen haben wir genug. Lassen Sie uns in mein Büro gehen. Dort können wir ungestört reden. Es ist nicht weit.“

Barudi folgte dem Sekretär, dem die Masse aus Respekt einen Korridor öffnete.

„Wie Moses, der das Meer teilte. Es ist kein Zufall, dass der Herr Doktor Musa, also Moses, mit Nachnamen heißt“, witzelte Mancini. Barudi lächelte.

In seinem Büro angekommen, fing der Erste Sekretär ausschweif­end an zu erzählen. Sobald Barudi ihn aber nach dem Kardinal fragte, bekam er enttäusche­nd wenig zu hören.

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