Mittelschwaebische Nachrichten

Allein gelassen?

Angesichts der aktuellen Beschränku­ngen fordern manche Menschen einen Corona-Kurswechse­l und den Schutz vor allem von Risikogrup­pen. Was Betroffene davon halten

- VON MARIA HEINRICH

Augsburg Auch wenn die erste Lockdown-Woche im November geschafft ist, steht den Menschen in Deutschlan­d vermutlich noch ein harter Corona-Winter bevor. Viele fragen sich, wie es in den nächsten Wochen weitergeht und rufen nach einem Strategiew­echsel in der Pandemie-Politik.

Die Forderunge­n nach einem solchen sind zu hören, seit erneut viele Bereiche des alltäglich­en Lebens geschlosse­n sind. Einer ihrer prominente­sten Unterstütz­er ist der Bonner Virologe Hendrik Streeck. „Ich halte den Shutdown für zu früh“, sagte er. Statt eines solchen „Stotterbre­msens“müsse man eine Langzeitst­rategie entwickeln und sich auf den Schutz der Risikogrup­pen konzentrie­ren. Das könnte zum Beispiel bedeuten: Viele Bereiche des öffentlich­en Lebens würden geöffnet, für Alten- und Pflegeheim­e könnten weiterhin strenge Regelungen gelten.

In der Bevölkerun­g stößt das auf Zustimmung wie Ablehnung. „Ich wünsche mir auch deutlich mehr Pragmatism­us und Rationalit­ät und weg von immer mehr Verboten, Bußgeldern und Strafen“, schreiben die einen in sozialen Netzwerken, „Das ist in allerhöchs­tem Maße unverantwo­rtlich und unethisch“, die anderen. Doch was ist eigentlich mit denjenigen, die von so einem bundesweit­en Strategiew­echsel betroffen wären? Die Personen, die vom Robert Koch-Institut als Risikogrup­pen eingestuft sind. Was sagen die Menschen über 60 Jahre oder die, die an einer Grund- oder Vorerkrank­ungen leiden oder eine Behinderun­g haben?

„Bei diesen Diskussion­en fühlen sich viele Senioren entmündigt und bevormunde­t“, sagt Franz Wölfl, Vorsitzend­er der Landesseni­orenvertre­tung Bayern. „Es wird viel über die alten Menschen gesprochen, aber kaum mit ihnen.“Ähnlich empfinden manche Betroffene in den sozialen Medien. Dort schreibt eine Nutzerin zum Beispiel: „Lasst uns – Oma und Opa – selber entscheide­n, was wir wollen. Wir sind alt genug.“Eine Haltung, die der 72-jährige Wölfl nachvollzi­ehen kann. „Wir Senioren haben viel Lebenserfa­hrung. Wir wollen die Corona-Politik nicht bestimmen, aber zumindest gefragt werden.“Für Wölfl sei der momentane Shutdown „alternativ­los und erforderli­ch“. Den Vorschlag, dass alle Beschränku­ngen aufgehoben und dann vor allem Risikogrup­pen geschützt werden, hält er für „Diskrimini­erung“.

Ähnlich steht dazu Margit Berndl vom Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband in Bayern. „Auch Menschen, die zu den sogenannte­n Risikogrup­pen gehören, haben ein Recht auf Teilhabe an der Gesellscha­ft. Bevölkerun­gsgruppen gegeneinan­der auszuspiel­en kann und darf keine politisch gewünschte Maßnahme sein.“Ältere Menschen, Kranke und Menschen mit Behinderun­g seien mündige Bürger, „die selbst entscheide­n möchten, wie sie ihr Leben gestalten wollen“.

Dieser Meinung schließt sich Patricia Koller vom Behinderte­nverband Bayern an. „Dies würde die bestehende Segregatio­n nur weiter zementiere­n. Der Lockdown schränkt unsere ohnehin schwach ausgeprägt­e Teilhabe am Leben noch weiter ein. Wir werden ja so schon ständig aus der Gesellscha­ft aussortier­t, bevormunde­t und benachteil­igt.“

Neben Senioren und Menschen mit Behinderun­g zählen aber auch diejenigen zur Risikogrup­pe, die momentan zum Beispiel in einer Klinik behandelt werden oder die an einer Grund- beziehungs­weise Vorerkrank­ung leiden – etwa Asthma, Krebs oder Diabetes. Für deren Interessen setzt sich Carola Sraier vom

Patientenn­etzwerk Bayern ein. Für den Fall eines Corona-Kurswechse­ls in Bayern fordert sie: Die Verantwort­ung für das eigene Leben und Sterberisi­ko dürfe nicht abgesproch­en werden. „Wenn Schutzbedü­rftige entscheide­n, dass sie lieber ein Risiko in Kauf nehmen wollen, wie die Reise zu Verwandten in einem anderen Bundesland, den Besuch einer Sport-/ Reha- oder Selbsthilf­egruppe oder eines Restaurant­s, dann muss das akzeptiert werden.“

Wie soll die Corona-Strategie aber nun aussehen? Lieber Beschränku­ngen für alle oder nur noch die Risikogrup­pen besonders schützen? Oder ein ähnlicher Weg, wie er monatelang in Schweden versucht wurde? Dort allerdings mit fraglichem Erfolg: Denn obwohl Altenund Pflegeheim­e eine lange Zeit komplett abgeriegel­t waren, war ein Großteil der Menschen, die an Corona starben, über 70 und pflegebedü­rftig. Virologe Streeck schlägt beispielsw­eise ein „Schleusen“-Modell für Besucher von Senioren- und Pflegeheim­en sowie Krankenhäu­sern vor, wonach diese nur nach einem negativen Antigen-Schnelltes­t Zutritt erhalten. Manche Politiker dagegen sprechen sich bei der Verfolgung von Infektions­ketten für eine sogenannte Cluster-Aufarbeitu­ng aus.

Auch Franz Wölfl hat sich Gedanken gemacht: „Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, an Risikogrup­pen kostenlos FFP2-Masken zu verteilen, Schnelltes­ts für Heimbesuch­er zu stellen oder in den Supermärkt­en spezielle Einkaufsze­iten nur für Senioren einzuführe­n.“Oder man könnte vor Heimen Container aufstellen, in denen die Besuche stattfinde­n. „Das würde das Ansteckung­srisiko vielleicht reduzieren.“

Margit Berndl vom Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband glaubt: „Ich meine nicht, dass ein Strategiew­echsel funktionie­ren kann.“Menschen aus den Risikogrup­pen sollten aber nicht in Sonderwelt­en leben müssen, sondern ohne Barrieren an der Gesellscha­ft teilhaben können.“Für Menschen mit Behinderun­g fordert Patricia Koller außerdem: Viele von ihnen lebten ohnehin in bitterster Armut und sollten alleine deshalb kostenlos schützende Mund-NasenSchut­z-Masken und Desinfekti­onsmöglich­keiten erhalten. „Der Schutz der Risikogrup­pe ist auch davon abhängig, wie sich der Rest der Bevölkerun­g verhält. Eine Gesellscha­ft ist nur so stark wie ihr schwächste­s Mitglied.“

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In der Corona‰Krise wird stets auch über den Schutz der Risikogrup­pen diskutiert. Der Alten, Kranken und der Menschen mit Be‰ hinderung. Wie könnte ein Strategiew­echsel aussehen, ohne sie auszugrenz­en?

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