Mittelschwaebische Nachrichten
Plötzlich war die Mama weg
Schicksal Für viele Menschen war der Mauerfall 1989 ein Moment der Befreiung. Für Katharina Vernau war er der Beginn traumatischer Erlebnisse, die sie bis heute verfolgen
Günzburg „Das Kind ist sehr verstört. Es weint sehr viel, ist ausgesprochen ängstlich und verlangt schon immer wieder nach der Mama.“Es ist mehr als 30 Jahre her, dass die Leiterin eines Berliner Kinderheims diese Sätze sagte. Sie beschrieb damit die zweijährige Katharina. Kurz nach dem Mauerfall war sie gemeinsam mit ihrem einjährigen Bruder in das Kinderheim Makarenow im Bezirk Treptow gebracht worden – nachdem ihre Mutter in den Westen gegangen und ihre drei Kinder im Osten zurückgelassen hatte. Um den Ältesten der drei kümmerte sich die Großmutter. „Ich versteh es überhaupt nicht. Das ist Egoismus. Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein“, sagt Katharina Vernau heute. Sie ist mittlerweile 33 Jahre alt und wohnt in Offingen im Landkreis Günzburg. Ihre leibliche Mutter nennt sie nur noch „Erzeugerin“.
Der Mauerfall – für viele Menschen ein Moment der Befreiung, für Katharina Vernau der Beginn traumatischer Erlebnisse, die sie noch heute verfolgen. Denn nach dem Aufenthalt im Kinderheim kommen Vernau und ihr Bruder bei Adoptiveltern in Berlin unter. Das Verhältnis „war nicht so toll“, erzählt Vernau. Ihren Adoptivvater hat sie seit nunmehr zwölf Jahren nicht mehr gesprochen, ihre Mutter zuletzt vor zwei Jahren. „Ich sage immer, ich habe keine Eltern.“
Schon damals zeigte sich, dass das Verhalten ihrer leiblichen Mutter Spuren bei dem Mädchen hinterließ: Vernau will keine Nähe zulassen. Ihre Adoptivmutter durfte sie deshalb weder anfassen noch kuscheln. „Das war natürlich auch für sie hart.“Und noch heute will die 33-Jährige niemanden zu 100 Prozent an sich heranlassen. „Ich kann und möchte mich auf keinen verlassen“, sagt sie. Ihre erste Ehe sei genau daran gescheitert. Ihr Ex-Mann sei damit nicht klargekommen, ihm habe die Nähe gefehlt. Ihr jetziger Mann komme hingegen damit zurecht. Die einzigen Menschen, die sie verletzen könnten, seien ihre fünf Kinder. Diese einfach wegzugeben, könne sie sich niemals vorstellen – „auch wenn es manchmal megastressig ist“. Stattdessen will sie für die Kinder da sein. Ihnen das
Vertrauen geben, dass sie immer zu ihrer Mutter kommen können. „Bis jetzt funktioniert das auch gut.“Ihre eigene „Erzeugerin“habe sie nie wieder gesehen und wolle es auch gar nicht.
Katharina Vernau und ihr Bruder sind nicht Einzigen, die nach dem Mauerfall alleine in der DDR zurückblieben. Über ihr Schicksal und das anderer zurückgelassener Kinder berichtet Filmautor Adrian-Basil Müller in der Dokumentation „Als Mutti in den Westen ging“, die an diesem Dienstag um 22.10 Uhr im MDR ausgestrahlt wird. Der Kontakt zu den Filmemachern kam für Vernau durch einen Zufall zustande. Ihre Tante hatte sie auf Filmausschnitte der MDR-Zeitreise aufmerksam gemacht, in denen Vernau sich und ihren kleinen Bruder erkannte. Sie meldete sich bei den Verantwortlichen, woraufhin Filmautor Müller sie nach einem Interview fragte. Er wollte Vernau zufolge ein „Positivbeispiel“in der Dokumentation zeigen. Denn viele der Zurückgelassenen kämen später offenbar nicht im Leben zurecht: Sie nehmen sich das Leben oder werden süchtig. Vernau willigte ein. Sie selbst findet es interessant, was aus den Kindern von damals geworden ist. Und ihr ist es wichtig, dass die Menschen erfahren, dass jedes von ihnen mit Langzeitschäden zu kämpfen hat.
Als das Filmteam in ihr Familienleben trat, sei das sehr ungewohnt gewesen. Ohne Kamera konnte Vernau ohne Probleme sprechen. Wenn sie dann allerdings gefilmt wurde, sei es „schwierig“gewesen. „Man fragt sich gleichzeitig immer, wie das jetzt beim Zuschauer rüberkommt“, sagt die 33-Jährige. Über manche gestellten Fragen habe sie sich noch nie zuvor Gedanken gemacht.
In der Dokumentation sieht Vernau außerdem das erste Mal Aufnahmen von sich und ihrem Bruder im Kinderheim. Ihre Gefühle, die sie dabei empfindet, beschreibt sie als „gemischt“: Auf der einen Seite finde sie es bedrückend, sich selbst so traurig zu sehen. Auf der anderen Seite sei es schön, Aufnahmen von sich als kleines Kind zu haben – denn andere gibt es nicht. „Ich habe mich immer gefragt, woher meine dreijährige Tochter ihr Gesicht hat. Jetzt weiß ich’s.“