Mittelschwaebische Nachrichten
Die des Vergessens
Diese Lieder kennt in Deutschland jeder. Aber kaum jemand weiß, was es damit auf sich hat
Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum ... Diese ersten Zeilen eines Volkslieds dürften hierzulande kaum jemandem unbekannt sein. Jeder zweite Freizeitchor hat das Stück im Repertoire, der musikalische Großvater gibt es bei der Familienfeier zum Besten, mancher Wanderer trällert es unterwegs vor sich hin – das Liedlein hat sich tief in die deutsche Musiktradition eingegraben. Es erzählt von einer Linde und den vielen Erinnerungen, die das Ich im Lied mit ihr verbindet. Ein Text zum Wohlfühlen, zum die Seele baumeln lassen, ein Text – über Selbstmordgedanken?
Tatsächlich steckt hinter dem Volkslied „Am Brunnen vor dem Tore“noch etwas ganz anderes als nur das heimelige Bild, das man gemeinhin damit verbindet. Ursprünglich waren die sechs Strophen über den jungen Mann, der an der Linde vorbeigeht, unter dem Titel „Der Lindenbaum“Teil des 1824 erschienenen Gedichtzyklus „Winterreise“von Wilhelm Müller. Franz Schubert vertonte den ganzen Zyklus und Friedrich Silcher schrieb Schuberts Variante des Lindenbaums
schließlich zu der heute so bekannten Fassung um. So weit, so uninteressant. Doch wer die Zeilen heute singt, versteht ihren Inhalt oft falsch: Im Gedichtzyklus ging es eigentlich um einen jungen Mann, der sich traurig auf eine ziellose Wanderschaft begibt, nachdem er seine Geliebte nicht heiraten konnte, erklärt Uwe Sochaczewsky, der an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und an der Münchner Musikhochschule lehrt. Wenn im Liedtext die Zweige der Linde rauschen, als riefen sie: „Komm her zu mir, Geselle, hier findst Du Deine Ruh’“, geht es nicht um gemütliches Rasten: „Im Text ist der Lindenbaum die Verlockung, sich umzubringen“, sagt der Musikexperte. „Wer den Zusammenhang nicht kennt, glaubt allerdings, dass nur ein schöner Baum und die Idylle vor den Toren eines Dorfes besungen wird.“
Dass im Laufe der Zeit viel von dem vergessen wird, was der Komponist einstmals in sein Werk hineinschrieb, komme immer wieder vor, sagt Uwe Sochaczewsky. Manchmal werde allerdings beim Vergessen auch nachgeholfen. So hätten zum Beispiel die Nationalsozialisten Werke von unliebsamen Künstlern verboten – oder, wenn ein Lied bereits sehr beliebt war, einfach den Namen des Komponisten durch ein „Autor unbekannt“ersetzt. Diese Anonymisierung habe sich nicht nur auf Musikstücke beschränkt, sondern sei etwa auch den Gedichten von Heinrich Heine widerfahren.
Wenn der Ursprung von Liedern in Vergessenheit gerät, ist das aber meistens keine Absicht. Gleichgültig ist es allerdings nicht, denn das Wissen um die Entstehung kann großen Einfluss auf die Wirkung und Bedeutung von Musik haben. Ein gutes Beispiel dafür ist die deutsche Nationalhymne: Der Text gedichtet von Hoffmann von Fallersleben, die Melodie von Joseph Haydns „Kaiserlied“, so lernt es jeder Schüler. Sochaczewsky ergänzt diese
„Die Nationalhymne war ursprünglich ein kroatisches Volkslied.“
Entstehungsgeschichte um ein Detail, das viele nicht kennen: „Die deutsche Nationalhymne war ursprünglich ein kroatisches Volkslied, das Haydn teilweise neu komponiert hat.“Die Vorlagen, die es zu Haydns Zeit gab, seien sehr ähnlich und man müsse annehmen, dass der Komponist sie kannte. Wer sich das kroatische „Jutro rano se ja stanem“anhört, stellt fest, dass die ersten Takte exakt der Melodie von „Einigkeit und Recht und Freiheit“gleichen. Der Text hingegen ist deutlich weniger staatstragend: „Früh am Morgen stehe ich auf,