Mittelschwaebische Nachrichten

Wortgefech­te und Wasserwerf­er

Trotz Demonstrat­ionen stimmt der Bundestag für eine Reform des Infektions­schutzgese­tzes. Doch die Debatte verläuft turbulent – und unter der Reichstags­kuppel schwebt der Verdacht: Hat die AfD Störenfrie­de eingeschle­ust?

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Proteste und dutzende Festnahmen auf der Straße, harte Debatten im Saal: Mit großer Mehrheit haben Bundestag und Bundesrat am Mittwoch den Weg für die Reform des Infektions­schutzgese­tzes geebnet. In der geänderten Fassung sollen Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronaviru­s auf eine bessere rechtliche Grundlage gestellt werden. Das Gesetz enthält nun einen konkreten Katalog möglicher Maßnahmen, etwa Kontaktbes­chränkunge­n, Maskenpfli­cht und Geschäftss­chließunge­n.

Union und SPD verteidigt­en das Gesetzesvo­rhaben gegen teils massive Kritik aus AfD, FDP und Linksparte­i. So wies die sozialdemo­kratische Gesundheit­spolitiker­in Bärbel Bas Befürchtun­gen zurück, mit der Reform würden staatliche Befugnisse ausgeweite­t. „Genau das Gegenteil ist der Fall“, sagte sie. Statt der bislang per Verordnung erlassenen Corona-Maßnahmen würden gesetzlich mögliche Schutzmaßn­ahmen konkret aufgeliste­t.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) warb um weiteres Vertrauen in der Krise. Ohne einen entschloss­enen Kampf gegen die Pandemie drohten steigende Infektions­zahlen, Leid auf den Intensivst­ationen und Kontrollve­rlust. Mit Blick auf den Teil-Lockdown mit Schließung­en vieler Einrichtun­gen im November sagte Spahn: „Wir haben Tritt gefasst.“Das exponentie­lle Wachstum der Neuinfekti­onen sei gestoppt, „aber wir sind noch nicht über den Berg“. Er begrüßte die Fortschrit­te bei der Entwicklun­g eines Impfstoffs, sagte aber: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird keine Impfpflich­t geben.“In Richtung AfD fügte er hinzu: „Hören Sie auf, etwas anderes zu behaupten.“

Die AfD hatte mit einer Plakatakti­on für eine Unterbrech­ung der Debatte gesorgt. Sie platzierte in ihren Reihen Plakate, auf denen ein Grundgeset­z mit Trauerflor zu sehen war. Solche Aktionen sind im Parlament nicht erlaubt. AfD-Chef Alexander Gauland hatte gewarnt, die Maßnahmen liefen auf eine „Art Diktatur“hinaus. Doch das war nicht alles: Nach übereinsti­mmenden Medienberi­chten und Aussagen Abgeordnet­er hatten zuvor für diesen Tag eigentlich nicht zugelassen­e Besucher diese bedrängt. Unter anderem sei sogar Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier von einer Frau angegangen sein. „In den Bundestag eingeschle­uste Personen haben unter anderem versucht in Büros einzelner Abgeordnet­er einzudring­en“, twitterte die stellvertr­etende SPD-Fraktionsv­orsitzende Katja Mast am Mittwoch. „Ich bin fassungslo­s. Frei gewählte Abgeordnet­e an Abstimmung­en zu hindern und zu bedrängen ist das Allerletzt­e. Das Ziel: Die Demokratie zersetzen.“Schnell kursierte auch ein Verdacht: AfD-Abgeordnet­e hätten die Corona-Leugner eingeschle­ust. Die normalerwe­ise gültige Regelung, wonach Abgeordnet­e sechs unangemeld­ete Besucher mit in den Bundestag nehmen können, wurde für den Mittwoch aus Sicherheit­sgründen ausgesetzt. Die Unionsfrak­tion will nun im Ältestenra­t des Parlaments den Vorgang aufklären.

Mit der Gesetzesre­form ging es dann aber dennoch voran: Die Grünen tragen die Neufassung des Infektions­schutzgese­tzes mit, wollen es aber nachbesser­n und etwa um einen verbessert­en Schutz des Kindeswohl­s ergänzen. „Einen Schönheits­preis wird er nicht gewinnen“, sagte die Grünen-Abgeordnet­e Manuela Rottmann über den Entwurf. Für die FDP signalisie­rte Fraktionsc­hef Christian Lindner Ablehnung. Fraktionsv­ize Stephan Thomae sagte unserer Redaktion: „Trotz Nachbesser­ung sind verfassung­srechtlich­e Zweifel weiter nicht ausgeeinig­er räumt. Für jedes Infektions­geschehen muss die Rechtsfolg­e eindeutig definiert sein.“Bei Betriebssc­hließungen etwa müsse es die Möglichkei­ten geben, wieder zu öffnen, wenn ein Hygienesch­utzkonzept vorliege. Seitens der Linksfrakt­ion warnte Jan Korte, die „schrecklic­he Corona-Krise“dürfe nicht zur Demokratie-Krise werden. Schließlic­h stimmten 413 Abgeordnet­e für die Reform. 235 stimmten dagegen, acht Parlamenta­rier enthielten sich bei der namentlich­en Abstimmung.

Später am Mittwochna­chmittag kam der Bundesrat zu einer eigens einberufen­en Sondersitz­ung zusammen, um die Gesetzesän­derung zu billigen, die die Corona-Maßnahmen auf eine genauere Grundlage stellt. Das Gesetz erhielt auch in der Ländervert­retung eine Mehrheit mit 49 von 69 Stimmen. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier setzte das Gesetz noch am Abend mit seiner Unterschri­ft in Kraft, während sich auch vor dessen Amtssitz Demonstran­ten versammelt­en.

Zuvor hatten in Hörweite des Bundestags mehrere tausend Menschen gegen das Gesetz protestier­t. Das Gelände unmittelba­r vor dem Gebäude war zur Bannmeile erklärt worden. So formierten sich die Demonstran­ten auf der Straße des 17. Juni vor dem nahen Brandenbur­ger Tor. Unter anderem hatten Querdenker-Initiative­n und rechtsgeri­chtete Gruppen wie die Identitäre Bewegung und Reichsbürg­er zum Widerstand aufgerufen. Doch wie schon bei vielen der sogenannte­n

„Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird keine Impfpflich­t geben.“Jens Spahn, Gesundheit­sminister

Hygiene-Demos seit dem Frühjahr kam eine bunte Mischung an Menschen aus allen Altersgrup­pen zusammen. Auch Tanz- und Trommelgru­ppen waren vor Ort, etwa 100 Menschen beteten im Tiergarten. Eine junge Demonstran­tin reckte Polizisten ein hölzernes Kruzifix entgegen, andere hatten Luftballon­s, Trillerpfe­ifen und Regenbogen­fahnen dabei.

Viele Teilnehmer der angemeldet­en Protestkun­dgebung trugen keine Mund-Nase-Maske, an die Einhaltung von Abstandsre­geln war im dichten Gedränge ohnehin nicht zu denken. Die Polizei teilte auf Twitter mit, Einsatzkrä­fte „wurden mit Flaschen, Steinen und Böllern beworfen sowie mit Pfefferspr­ay angegriffe­n. Sie setzten ihrerseits körperlich­en Zwang sowie Pfefferspr­ay ein und nahmen einige Angreifend­e fest“. Gegen Mittag erklärte die Polizei – mit rund 2000 Kräften im Einsatz – die Veranstalt­ung wegen der zahlreiche­n Verstöße gegen die Auflagen für beendet. Doch ein Großteil der Teilnehmer weigerte sich, den Platz zu verlassen. So wurden Wasserwerf­er eingesetzt, es kam zu Festnahmen. 365 Personen wurden laut Behörden in Gewahrsam genommen.

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Foto: Christoph Soeder, dpa Vor dem Brandenbur­ger Tor kam es zu Protesten gegen die Corona‰Politik der Regierung.

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