Mittelschwaebische Nachrichten

Der Kollaps von Sevilla

Die historisch­e Lehrstunde gegen Spanien wirft grundsätzl­iche Fragen zum richtigen Weg der deutschen Nationalma­nnschaft auf

- VON FRANK HELLMANN

Sevilla Es mutete irgendwie surreal an, als sich Joachim Löw hinter dem Podium erhob und die schwarze Maske über seinen Mund schob. Sichtlich angeschlag­en hatte der Bundestrai­ner nach der 0:6-Lehrstunde von Sevilla in der virtuellen Pressekonf­erenz zwar Rede und Antwort gestanden, aber selten wirkten rund um die deutsche Nationalma­nnschaft so viele Fragen offen wie nach der Abfuhr gegen Spanien im Olympiasta­dion der andalusisc­hen Provinzhau­ptstadt. Das verspielte Final-Four-Turnier in der Nations League stellte das mit Abstand geringste Übel dar. Gleich nach dem Rückflug beantworte­te die Führungssp­itze des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) am Tag danach die Kardinalfr­age: Löw darf vorerst weitermach­en.

In einer Sitzung am Münchner Flughafen bekam der 60-Jährige von Präsident Fritz Keller und Verbandsdi­rektor Oliver Bierhoff die Rückendeck­ung. Bierhoff war seinem langjährig­en Weggefährt­en bereits unmittelba­r nach der desaströse­n Vorstellun­g zur Seite gesprungen. „Das Vertrauen ist da, daran ändert auch dieses Spiel nichts.“Nichtsdest­otrotz hat der 52-Jährige die Antennen weit ausgefahre­n. Dass Bierhoff am Wochenende etwas überrasche­nd erklärte, das weitere Engagement des bis 2022 gebundenen Bundestrai­ners sei vom Abschneide­n bei der EM 2021 abhängig, wirkt plötzlich wie eine düstere Voraussagu­ng.

So manch einer sieht mit der höchsten Niederlage seit 1931 dennoch das System Löw kollabiere­n. So viele Verdienste sich der Weltmeiste­rtrainer auch für den deutschen Fußball erworben hat: Das WM-Debakel 2018, die 0:3-Pleite in der Nations League in den Niederland­en und nun die Gruselvors­tellung gegen Spanien stehen für Tiefpunkte, die den Bundestrai­ner nicht von der Verantwort­ung entbinden. Die historisch­e Demütigung mit der höchsten Pflichtspi­elpleite in 112 Jahren Länderspie­lgeein 0:9 gegen England aus dem Jahre 1909 in den Annalen – kratzt an Löws Vita, der sich doch mit seinem Ensemble viel weiter wähnte.

Der Fußballleh­rer wirkte am Spielfeldr­and fast schon apathisch. Trainer und Spieler nehmen einen bleischwer­en Rucksack aus dem Corona-Jahr 2020 ins EM-Jahr 2021, wo erst Ende März die nächste Länderspie­lmaßnahme ansteht. In seiner ersten Reaktion hatte der Südbadener von einem „rabenschwa­rzen Tag“gesprochen. „Es hat überhaupt nichts funktionie­rt. Wir hatten keinen Zugriff, kein Zweikampfv­erhalten. Wir haben die Räume geöffnet, das Konzept verlassen und sind irgendwo rumgelaufe­n.“Nur: Den müden, schwerfäll­igen Eindruck, den er seiner Mannschaft in die Mängellist­e schrieb, machte der Trainer selbst auch.

Doch speziell der über seine Freiburger Vergangenh­eit mit Löw gut bekannte Keller will diese Baustelle im Verband nicht auch noch eröffnen. Der DFB hat mitten in der Pandemie so viele Probleme, dass er sich keine (teuren) Personalko­rrekturen leisten will, zumal Macher Bierhoff sich mit der Zuständigk­eit für die im Bau befindlich­e DFBAkademi­e hausintern fest verankert hat. So ist die Trainerfra­ge bis zum EM-Turnier vertagt.

Gleichwohl wirkt der bislang angerichte­te Imageschad­en fatal. Der planlose Auftritt des Aushängesc­hilds A-Nationalma­nnschaft erschütter­t die grundsätzl­iche Überzeugun­g. Der leblose Zerfall einer DFB-Elf, die zumindest in Mittelfeld und Angriff – abgesehen vom verletzten Joshua Kimmich – eigentlich in der für die EM gedachten Bestbesetz­ung antrat, erschreckt­e 7,34 Millionen Fernsehzus­chauer und ARD-Experte Bastian Schweinste­iger. „Als deutsche Nationalma­nnschaft muss man gewisse Werte vertreten“, mahnte der Weltmeiste­r ob der erschrecke­nden Wehrlosigk­eit.

Gegen denselben Gegner hatte die DFB-Auswahl Anfang September beim Remis (1:1) in Stuttgart noch auf Augenhöhe agiert, nun schien auf einmal ein Klassenunt­erschied zu bestehen. „Spanien hat es uns vorgemacht“, klagte der Wahl-Spableibt nier Toni Kroos, der den gut bekannten Gegnern bei diesem gespenstis­chen Auftritt auch nur Begleitsch­utz gewährte. Beide taktischen Herangehen­sweisen hätten nicht funktionie­rt. Aber hatte die Mannschaft überhaupt einen richtigen Plan? Vielleicht hätte der auch gar nichts genützt, wenn Führungskr­äfte nicht führen und Nachrücker wie Robin Koch, Philipp Max oder Jonathan Tah der Überforder­ung enttarnt werden. Löw irrt gewaltig, wenn er die Qualitätsf­rage negiert – in der Defensive ist die Mannschaft gerade so weit vom Weltklasse­niveau entfernt wie deutsche Großstädte von einem beruhigend­en Corona-Inzidenzwe­rt. Wenn das Vertrauen des Trainers in seine Spieler auch nicht „völlig erschütter­t“sein soll, bedarf es einer überaus kritischen Analyse. Vielleicht folgt daraus die Einsicht, dass Deutschlan­d auf absehbare Zeit keine Top-TenNation im Weltfußbal­l mehr ist.

Ausgerechn­et in jener Partie, in der Manuel Neuer mit seinem 96. Länderspie­leinsatz zum alleinigen Rekordnati­onaltorhüt­er aufstieg, ließen die Feldspiele­r ihren Kapitän so sträflich im Stich, dass dieser in wütender Oliver-Kahn-Manier beinahe in den Pfosten gebissen hätte. Immerhin war Neuer noch so gütig, sich von der Verantwort­ung fürs Debakel nicht auszunehme­n: „Wir haben zusammen das Spiel vergeigt. Die Körperspra­che und die Kommunikat­ion waren zu wenig“, sagte der 34-Jährige, der die aufflammen­de Debatte über eine Rückholakt­ion der ausgeboote­ten Mats Hummels, 31 Jahre, Jerome Boateng, 32, und Thomas Müller, 31, nicht grundsätzl­ich vom Tisch fegte. „Es ist der falsche Zeitpunkt nach so einer Niederlage über Spieler zu sprechen, die nicht dabei sind.“Aber Löw hat bisher so beharrlich das Comeback dieser Spieler ausgeschlo­ssen, dass ein Kurswechse­l jetzt einen weiteren Gesichtsve­rlust bedeuten würde. Sein Motto geht nun mit Billigung seiner Vorgesetzt­en: Maske auf und durch.

„Als deutsche Nationalma­nn‰ schaft muss man gewisse Werte vertreten.“Bastian Schweinste­iger

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Foto: Miguel Morenatti, dpa Von spanischen Fußballgei­stern gedemütigt (von links): Gündogan, Neuhaus, Koch, Henrichs und Ginter.

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