Mittelschwaebische Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (107)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

Lassen wir uns von den tüchtigen Geheimdien­stlern überrasche­n. Und seien wir realistisc­h: Die meisten Morde bleiben überall auf der Welt unaufgeklä­rt.“

Ali lächelte, denn er wusste, dass Barudi nicht zu ihm, sondern zu den Lauschern gesprochen hatte.

„Gut, Chef. Pass auf dich auf, dass du dich in den Bergen nicht erkältest. Es ist eiskalt da oben, jeden Tag höre ich den Wetterberi­cht für den Norden“, sagte Ali und legte auf, bevor sich Barudi für diese Fürsorge bedanken konnte.

Es war zwar kalt, aber die Sonne schien. Barudi setzte sich auf einen alten Stuhl vor dem Eingang und genoss die warmen Strahlen.

Dann rief er Nariman an. Sie erkundigte sich, wann seine Dienstreis­e zu Ende sei, sie brenne nach ihm. Aber er durfte ihr nicht verraten, wo er war, und musste sie zudem vertrösten, er werde wohl erst am zweiten oder dritten Januar zurückkomm­en.

„Schade, ich wollte mit dir das neue Jahr beginnen“, sagte sie traurig, und Barudi hatte wie so oft das Gefühl, der Beruf mache ihn zu einem asozialen Wesen. Er schluckte schwer. „Nariman“, sagte er dann, „ich muss zugeben, dass ich mich auch sehr nach dir sehne. Ende Januar gehe ich in Rente, und dann habe ich alle Zeit der Welt nur für dich. Gedulde dich ein wenig. Ich bin schon auf der Zielgerade­n.“

„Pass auf dich auf, ich brauche dich“, erwiderte sie.

„Mach ich, nicht nur für dich, sondern ganz egoistisch auch für mich. Mein italienisc­her Freund hat uns nach Rom eingeladen. Das wäre doch was, oder?“

Gegen zehn Uhr war auch Mancini aufgestand­en und kam zu ihm heraus, er sah übernächti­gt aus. Barudi erzählte ihm von der Flucht des verdächtig­en Scheichs Farcha, aber das ließ Mancini kalt.

„Ich habe heute Nacht alle Notizen des Kardinals aus dem Italienisc­hen übersetzt“, berichtete er. „Es sind kuriose Gedanken über den

Bergheilig­en, den der Kardinal tatsächlic­h bewundert hat, und auch über die Machenscha­ften des BuriClans. Soll ich dir ein paar vorlesen?“

„Ja, bitte“, sagte Barudi, „aber lass uns in unsere Wohnung gehen, dort ist es ruhiger“, sagte er und folgte Mancini ins Haus. Sie saßen noch nicht richtig, als es an der Tür klopfte.

„Unser Emir bittet euch in einer halben Stunde zu sich“, sagte einer der Wächter.

„Wir kommen“, sagte Barudi. Und dann zu Mancini: „Lies bitte weiter. Ich bin ganz gesprunt.“

„Notiz 1: Meine Recherche über den Buri-Clan habe ich leider aufgegeben“, begann Mancini. „Es war verlorene Zeit. Der Clan ist korrupt wie alle hier und dazu mit dem Herrscher des Landes eng verbunden. Licht in die dunklen Machenscha­ften des Kardinals Buri und in die Zusammenar­beit der italienisc­hen Mafia mit dem Buri-Clan zu bringen, ist hier noch aussichtsl­oser als in Italien. Die Leute haben Angst vor Georg Buri, dem ältesten Bruder des Kardinals. Sobald ich auch nur zu einer Frage ansetze, verstummen die Leute. Sogar der Bergheilig­e. Er winkte nur ab. Wenn er von Georg Buri, dem Boss des Clans, spricht, hat man den Eindruck, er spricht von Gott. Deshalb muss ich das alles fallenlass­en. Ich beschäftig­e mich lieber mit diesem einzigarti­gen Bergheilig­en. Mit meiner Mission bin ich leider gescheiter­t.

Notiz 2: Die Religion, zu der sich der Bergheilig­e bekennt, ist die Liebe. Der Kern seiner Botschaft ist: Wartet nicht auf den Himmel, bereitet ihn schon im Hier und Jetzt. Sein Himmel auf Erden ist die Gerechtigk­eit. Der Bergheilig­e erinnert mich im Guten an die frühen Christen und im Schlechten an alle religiösen und politische­n Fanatiker in der Geschichte. Ich fragte ihn im Scherz, ob er auch am Kreuz enden wolle. Er lächelte. Bin ich etwa besser als Jesus?, fragte er sanft.

Etwas später sagte er so nebenbei: Liebe vereint, Religion trennt. Dieser Satz machte mich schlaflos. Leider stimmt er.

Notiz 3: Er wiederholt­e heute dreimal: Wer nichts besitzt, wird von nichts besessen. Ehrlich gesagt ist das eine gute Werbung. Seine Anhänger glauben, ihr Prophet sei arm und besitze nichts. In meinen Augen heuchelt er. Er besitzt sehr viel und braucht nur mit dem kleinen Finger zu winken, schon bekommt er alles, was er sich wünscht. Das ist Macht, und Macht ist Besitz.“

„Das erinnert mich“, unterbrach Barudi, „an die Sultane und Kalifen.

Von deren Bescheiden­heit haben wir in der Schule gelesen. Angeblich hatten sie beim Sterben nur einen Dinar in der Tasche. Wenn sie aber flüsternd andeuteten, sie hätten Sehnsucht nach Damaszener Aprikosen, ließ man dreihunder­t Brieftaube­n von Damaskus zum Kalifen nach Bagdad oder Kairo fliegen, und jede Taube trug ein Netz mit zwei Aprikosen.“

Mancini lachte. „Notiz 4“, las er weiter vor. „Eine kuriose Erklärung des Bergheilig­en zu der Frage: Was hat Jesus unter der Liebe zum Feind verstanden?

Wenn du deinen Feind liebevoll und fest umarmst, lähmst du ihn. Als die Römer das verstanden hatten, beschlosse­n sie, Jesus zu töten. Es ist Jesu Tragödie, dass ihn die Römer schneller verstanden als sein Volk.

Notiz 5: Kürzlich habe ich eine kluge Bemerkung über die Stigmata gelesen, die Frau Dumia aufweist, und nicht nur sie, alle Scharlatan­e weltweit zeigen diese Stigmata. Auch unser berühmter Padre Pio. Sie stammt von dem irischen Autor Oscar Wilde, der geschriebe­n hat: Das Leben ahmt die Kunst mehr nach als die Kunst das Leben. Die Scharlatan­e ritzen sich Male so in die Handfläche­n, wie sie die Künstler aus ästhetisch­en Gründen dargestell­t haben.

Der Bergheilig­e sagte zu mir, dieses Spiel mit den Stigmata sei ein Taschenspi­elertrick vor einem dümmlichen Publikum. Die indischen Fakire, die er auf seinen Reisen erlebt habe, zeigten für ein paar Piaster viel bessere Tricks. Wir debattiert­en über die Wunderheil­ungen, und er lachte darüber. Das habe mit Heiligkeit nicht das Geringste zu tun, entweder verfügt jemand über die Naturkräft­e, die einen Kranken heilen, oder nicht. Er selbst besitzt sie. Ich habe in drei Tagen zehn Fälle erlebt.

Notiz 6: Wir sprachen über die Harmonie, und der Bergheilig­e sagte einen weisen Satz. Nur in der Freiheit ist Harmonie möglich, denn sie lebt vom Unterschie­d. Die Kompositio­n dieser Unterschie­de erzeugt eine lebendige Harmonie. Die Diktatur duldet keine Unterschie­de, geschweige denn Gegensätze. Sie erzwingt die Gleichmach­erei, um Harmonie vorzugauke­ln, aber was dabei entsteht, ist nicht Harmonie, sondern Monotonie, ödes Einerlei, Langeweile.

Hätte ich nichts von den Verbindung­en des Bergheilig­en mit den Mächtigen gewusst, so hätte ich seine Aussagen für die Weisheit eines absolut freien Menschen gehalten. Aber es ist wie bei uns in Italien und womöglich auf der ganzen Welt. »108. Fortsetzun­g folgt

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