Mittelschwaebische Nachrichten

Lasst uns in die Schule!

In vielen italienisc­hen Städten sind die Schulen wieder zu. Kinder protestier­en gegen den Fernunterr­icht. Die zwölfjähri­ge Anita ging als Erste auf die Straße. Und sie könnte Erfolg haben

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Turin Immerhin scheint dieser Tage die Sonne in Turin. Morgens gegen neun Uhr sind es jetzt acht Grad. Anita ist in eine warme Decke gehüllt, sie trägt weiße Handschuhe, eine dicke Jacke, Schal, Gesichtsma­ske und Mütze. Jeden Morgen setzt sich die Zwölfjähri­ge an ein kleines Tischchen vor ihre Schule, der Mittelschu­le Italo Calvino im Zentrum von Turin. Vor ihr ein Heft, daneben das Federmäppc­hen und ein Tablet. An diesem Tag sitzen drei Mädchen im Sicherheit­sabstand nebeneinan­der, sie sind das Sinnbild einer neuen Protestwel­le im Land. „Schools for Future“– Schulen für die Zukunft – wird die Bewegung in Anlehnung an die Freitagspr­oteste der Klimaschüt­zer um Greta Thunberg genannt.

Anita und ihre Freundinne­n wollen eine Zukunft, die ihnen wegen der Corona-Pandemie derzeit vorenthalt­en wird. Die Oberschule­n sind in vielen Landesteil­en geschlosse­n. Es herrscht verkehrte Welt in

Italien: Die Schülerinn­en wollen in die Schule gehen, dürfen aber nicht.

Im Zuge der ersten PandemieWe­lle ließ die Regierung die Schulen im März im ganzen Land schließen. Weil die großen Ferien bereits Ende Juni beginnen, endete das Schuljahr mit Fernunterr­icht. Die meisten der acht Millionen Schüler in Italien verfolgten monatelang ihre Lehrer und deren Unterricht über Computer, Tablets oder Mobiltelef­one. Im Sommer schien Italien die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Schulen öffneten im September für Präsenzunt­erricht. Doch als die Ansteckung­szahlen im Oktober wieder in die Höhe gingen, beschloss die Regierung nicht nur erneute Beschränku­ngen im öffentlich­en Leben, sondern in einigen Landesteil­en auch die Schließung der Schulen. Überall im Land protestier­en Schüler dagegen.

„Wir wollen zurück in die Schule“, sagte Anita im italienisc­hen TVKanal Rainews. „Das ist nicht extravagan­t, sondern ein Recht.“Ihre Argumente lauten, dass die Schulen kein wesentlich­er Ansteckung­sherd seien, dass viele Schüler zu Hause schwierige­n Verhältnis­sen ausgesetzt seien, die Schule sei auch ein sicherer Ort für sie. Schließlic­h verfügten zahlreiche Familien gar nicht über entspreche­nde Geräte.

Im Frühjahr war von einem Viertel der italienisc­hen Familien ohne internetfä­hige Geräte die Rede, heute teilt die Statistikb­ehörde mit, zwölf Prozent aller Kinder zwischen sechs und 17 Jahren hätten keinen Zugang zum Internet. Anitas Mutter Cristiana Perrone fügt hinzu: „Anita erzählt mir, dass sie sich nicht konzentrie­ren kann, drei bis vier Stunden vor dem Bildschirm sind einfach zu viel.“Ihre Tochter und ihre Freundinne­n seien keine Covid-Leugnerinn­en, doch wenigstens die Schule könne wie in anderen Ländern im Präsenzunt­erricht funktionie­ren. Das würde auch berufstäti­ge Eltern entlasten.

Bis zur fünften Klasse wird in besonders betroffene­n Regionen Präsenzunt­erricht angeboten, ab Klasse sechs sowie an den Universitä­ten gibt es nur noch Online-Unterricht. Bildungsmi­nisterin Lucia Azzolina rief Anita in den ersten Tagen ihres Protests an und bedankte sich bei ihr. Sie werde alles tun, damit die Schulen bald wieder öffneten, berichtet Anitas Mutter über das Telefonat. In einem Zeitungsar­tikel schrieb die Ministerin an die Schüler: „Nicht ihr dürft es sein, die den höchsten Preis für diesen Notstand bezahlen.“Auch Ministerpr­äsident Giuseppe Conte versichert­e, die Schulen seien keine wesentlich­en Ansteckung­sherde. „Das Problem ist, was vor und nach der Schule passiert“, sagte er und meinte damit das Gedränge im öffentlich­en Nahverkehr. „Das ist gefährlich.“

Inzwischen ist die dritte Woche Heim-Unterricht angebroche­n. Der von Anita angestoßen­e Protest hat sich ausgeweite­t – nach Mailand, Treviso, Rom. Und die Aussichten für die Protestier­er sind gar nicht so schlecht. Angesichts des Rückgangs der Ansteckung­en besteht in einigen Regionen eine konkrete Chance für die Rückkehr in die Klassen.

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Foto: Johannes Neudecker, dpa „Unwissenhe­it tötet mehr als Covid“steht auf dem Zettel, den diese Schülerin an ihrem Laptop befestigt hat. Sie sitzt mit Klassenkam­eraden vor ihrem Gymnasium in Rom auf der Straße.

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