Mittelschwaebische Nachrichten

Europas irrwitzigs­tes Homeoffice

Corona Warum zahllose EU-Mitarbeite­r mit dem Flugzeug in den Hotspot Brüssel pendeln müssen, um in ihrer Zweitwohnu­ng zu arbeiten

- VON DETLEF DREWES

Brüssel An jedem Freitagnac­hmittag bietet sich am Brüsseler Flughafen das gleiche Bild: Die bis dahin leeren Abfertigun­gshallen füllen sich, die Flieger in die benachbart­en Hauptstädt­e sind gut besetzt – trotz des Coronaviru­s. Vor allem die Verbindung nach Berlin ist gefragt: Denn dann reisen die Angestellt­en der europäisch­en Institutio­nen übers Wochenende zu ihren Familien. „Mir bleibt nichts anderes übrig“, sagt Maximilian Kerler, der als Assistent eines Abgeordnet­en im EU-Parlament tätig ist. Seinen realen Namen möchte er nicht nennen. Eigentlich ist diese Pendelei ziemlich sinnfrei.

Denn weder Kerler noch die meisten anderen Mitarbeite­r von Kommission und Parlament haben ihr Brüsseler Büro seit Wochen von innen gesehen, sondern arbeiten in ihrer belgischen Zweitwohnu­ng im Homeoffice. Parlaments­präsident David Sassoli hatte das Abgeordnet­enhaus Anfang November zusperren lassen und sogar die Volksvertr­eter ins Homeoffice geschickt. Dabei könnten die Politiker und ihr Stab, wenn sie schon von zu Hause aus arbeiten sollen, auch in Deutschlan­d, Italien oder Frankreich bleiben. Doch das erlauben die Bestimmung­en für das Personal nicht. Also reisen sie aus ihrer Heimat am Montagmorg­en nach Brüssel und am Freitag wieder zurück.

Dabei geht es offiziell um Versicheru­ngsund Steuerpfli­chten, aber wohl auch um das dringende Bedürfnis der Arbeitgebe­r, die Mannschaft schnell zusammenru­fen zu können, wenn der Betrieb wieder hochgefahr­en wird. Eine Wahl haben all jene, die im Parlament, in der Kommission oder dem Rat der EU tätig sind, ihre Familien aber daheim gelassen haben, nicht. Schätzunge­n sprechen von rund fünf Prozent der insgesamt 47000 Beschäftig­ten bei allen drei Häusern, also knapp 2500 Zwangspend­lern. Sie stehen nämlich vor der Frage, ob sie ihre Lieben wochenlang gar nicht sehen – oder eben übers Wochenende mal kurz in die Heimat fliegen.

Dass diese Praxis ziemlich irrwitzig ist, dämmerte den Personalab­teilungen der EU-Institutio­nen erst nach und nach, nachdem sich etliche Abgeordnet­e für ihre pendelnden Mitarbeite­r eingesetzt hatten. Wichtigste­s Argument: In Belgien liegen die Infektions­zahlen dramatisch hoch, in der Regel deutlich höher als an den Heimatstan­dorten der Mitarbeite­r. Warum zwingt man sie, nach Brüssel zu reisen, obwohl sie ihre Arbeit doch genauso gut über das Internet erledigen könnten? Mehr noch: Die Anwesenhei­t in der belgischen Metropole ist eigentlich gar nicht nötig, weil kein politische­s Spitzentre­ffen derzeit physisch stattfinde­t. Inzwischen mehren sich die Ausnahmen, auf die viele hoffen. Die Bereitscha­ft, widersinni­ge Reisebesti­mmungen abzustelle­n, wächst – zumindest an dieser Front.

Dafür ist am Dienstag eine andere neu aufgebroch­en. Seit etlichen Monaten tagt die europäisch­e Volksvertr­etung schon in Brüssel, obwohl das Parlament seinen Sitz in Straßburg hat. Das sehen die EU-Verträge so vor. Doch die hohen Infektions­zahlen im Elsass führten dazu, dass die französisc­hen Behörden den Wanderzirk­us der 705 Europaabge­ordneten plus Mitarbeite­rn und Stäben sowie Serviceper­sonal nicht auch noch in der Stadt haben wollten. Und so träumte manch ein Politiker schon davon, dass Straßburg vielleicht am Ende doch obsolet werden könnte.

Dem ist nicht so. Parlaments­chef Sassoli bekam gestern einen vielsagend­en Brief der Straßburge­r Bürgermeis­terin Jeanne Barseghian, die sich höchst erstaunt darüber zeigte, dass die Geschäftsf­ührung des Abgeordnet­enhauses den Brüsseler Tagungssaa­l für 500 Millionen Euro

Belgien verzeichne­t extrem hohe Infektions­zahlen

wegen baulicher Mängel renovieren wolle, wo man doch in Straßburg „ein voll funktionsf­ähiges Gebäude“habe. Das Schreiben passt zu den Bemühungen der französisc­hen Regierung, die ihren Druck auf Sassoli seit Monaten massiv erhöht, endlich einmal im Monat nach Straßburg zurückzuke­hren. Allerdings: Sowohl das Elsass wie auch Brüssel gehörten und gehören noch immer zu den Brennpunkt­en der Pandemie.

Zwar sinken die Inzidenzwe­rte in der belgischen Hauptstadt gerade massiv, noch vor wenigen Wochen lagen sie bei knapp 2000 Infizierte­n je 100000 Einwohnern. Belgische Ärzte berichtete­n, sie müssten wegen der Überfüllun­g der Kliniken mit Covid-19-Erkrankten zur Triage greifen, also entscheide­n, welcher von zwei neu eingeliefe­rten Patienten behandelt und gerettet wird, weil nur noch ein Intensivbe­tt frei war. Aber ist das der geeignete Zeitpunkt, um die Wiederaufn­ahme des Wanderzirk­us zwischen Brüssel und Straßburg einzuforde­rn?

Belgische Virologen warnten in der vergangene­n Woche, angesichts der sinkenden Zahlen den Fehler vom Sommer zu wiederhole­n, als man die Beschränku­ngen zu schnell gelockert habe. Vielleicht sollten die EU-Institutio­nen dies auch selbst beherzigen und alles tun, um unsinnige Reisen so lange unnötig zu machen, bis Gewissheit herrscht. Für politische Prestigekä­mpfe und den Erhalt überkommen­er Personalvo­rschriften ist das nicht der richtige Augenblick.

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Foto: Tribouilla­rd, dpa Leerer Plenarsaal des Europaparl­aments: Der Parlaments­präsident schickte im Coro‰ na‰Hotspot Brüssel selbst die Abgeordnet­en ins Homeoffice.

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