Mittelschwaebische Nachrichten

„Kommen mit blauem Auge raus aus der Krise“

Der Top-Ökonom Hans-Werner Sinn zeigt sich ausgesproc­hen zuversicht­lich für die deutsche Wirtschaft. Er erwartet ein kräftiges Wachstum und sieht Licht am Ende des Corona-Tunnels – und zwar sehr nah

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Hans-Werner Sinn gilt nach wie vor als der bekanntest­e deutsche Ökonom. Der langjährig­e Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaft­sforschung ist 72 Jahre alt und analysiert wie eh und je die ökonomisch­e Lage der Nation und der Welt – und das unveränder­t mit dem charakteri­stischen Backenbart.

Mitte März haben Sie gesagt: „Wir befinden uns im Krieg gegen Corona.“Gewinnen wir den Krieg? Hans‰Werner Sinn: Der Krieg gegen Corona ist noch nicht zu Ende, aber wir gewinnen ihn. Schließlic­h werden extrem wirksame Impfstoffe in Kürze zugelassen. Und heimische Forscher sind hier an vorderster Front erfolgreic­h tätig, ob in Mainz oder Tübingen. Dabei sind das Biontech-Gründer-Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci, beides deutsche Kinder türkischer Immigrante­n. Sahin und Türeci sind wunderbare Beispiele für eine geglückte Integratio­n von Einwandere­rn, ja mehr noch für die neue Dynamik, die aus dem Zustrom von Ausländern resultiere­n kann. Sicherlich ist Immigratio­n häufig problemati­sch, weil der deutsche Sozialstaa­t insbesonde­re auf gering qualifizie­rte Menschen im Ausland wie ein Magnet wirkt. Der Fall von Ugur Sahin zeigt jedoch, dass die Einwanderu­ng eine enorme Innovation­skraft entfalten kann.

Viele Menschen sind derzeit stark verunsiche­rt, wie es wirtschaft­lich weitergeht. Haben Sie eine beruhigend­e Medizin für diese Bürger?

Sinn: Wir kommen mit einem blauen Auge aus der Krise raus. Wir erleben einen Aufschwung wie ein umgekehrte­s Wurzelzeic­hen: Es ging steil runter, dann schnell wieder hoch, aber nicht auf das alte Niveau. Wir kämpfen uns also in einer Seitwärtsb­ewegung wieder nach oben.

Im nächsten Jahr ist also nach dem Lockdown light BIP light, also immerhin leichtes Wachstum angesagt? Sinn: Sogar ein kräftiges Wachstum, weil es dieses Jahr so weit runterging. Der Winter wird noch schwierig. Aber die Politik beschreite­t heute einen guten Weg, den wir auch schon im Frühjahr hätten einschlage­n sollen. Die Schulen und die Firmen bleiben auf, nur die Vergnügung­sstätten schließen. Die Eltern können zur Arbeit, weil die Kinder betreut sind. Und weil Partys nicht steigen können, während man seine Freiheit am Arbeitspla­tz findet, haben viele Leute wieder Lust, aus der Kurzarbeit auszusteig­en.

Nach Ihrer Prognose scheint Licht am Ende des Corona-Tunnels auf.

Sinn: Dieses Licht ist sehr nah. In den USA und in Großbritan­nien wird man wohl Anfang Dezember mit den Impfungen beginnen, und zwar mit dem Impfstoff von Biontech aus Mainz. Ich hoffe, dass Deutschlan­d, das ja Biontech sehr viel Fördergeld gegeben hat, dafür auch frühzeitig bei der Verteilung des Impfstoffe­s berücksich­tigt wird. Oder müssen wir warten, bis die Amerikaner und Briten geimpft sind? Das wäre nicht vermittelb­ar.

Worauf gründen Ihre Befürchtun­gen? Sinn: Ich frage mich, ob für unsere Bürger genug Impfstoff von Biontech eingekauft wurde. Die Amerikaner haben sich den Impfstoff schon frühzeitig gesichert, und wir scheinen das Recht zur Verteilung des deutschen Impfstoffs an die EU übergeben zu haben. Würde Deutschlan­d zeitgleich mit EULändern an die Reihe kommen, die der Herdenimmu­nität bereits sehr viel näher sind als wir und die sich an der Forschungs­förderung nicht beteiligt haben, hätte ich ein erhebliche­s Störgefühl.

Wann erreicht Deutschlan­d wieder das wirtschaft­liche Niveau der Vor-Corona-Zeit? Hier gehen die Prognosen ja auseinande­r. Optimisten rechnen schon mit 2022. Pessimiste­n erst mit 2023 oder gar 2024.

Sinn: Ich glaube, dass Deutschlan­d Ende 2022 schon wieder so stark sein wird wie vor Corona. Aber das hängt alles davon ab, ob die Impfungen noch vor Weihnachte­n beginnen

erst im April, wie einige mutmaßen. So oder so wird die dritte Corona-Welle im Herbst wohl ausbleiben, sodass die Wirtschaft dann schon wieder durchstart­en kann, zumal das China-Geschäft bereits jetzt wieder boomt.

Hat die deutsche Politik einen guten Corona-Job gemacht?

Sinn: Ja, der Politik gebührt ein großes Lob bei den regulatori­schen Maßnahmen. Das gilt insbesonde­re für Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn und für den bayerische­n Ministerpr­äsidenten. Die Politik hat aus anfänglich­en Fehlern im Frühjahr gelernt und letztlich eine vernünftig­e Corona-Strategie entwickelt. Auch deshalb sind unsere Infektions­zahlen deutlich niedriger als in Nachbarlän­dern.

Doch welche Folgen hat die massive Ausweitung staatliche­r Ausgaben für Deutschlan­d?

Sinn: Im Zuge der Corona-Krise hat eine wundersame Geldvermeh­rung stattgefun­den. Letztlich kommt das Kurzarbeit­ergeld aus der Druckerpre­sse. Das fühlt sich schön an, funktionie­rt aber auf Dauer nicht. Geld muss man verdienen, indem man eine Leistung erzeugt, die andere bezahlen. Doch in Corona-Zeiten ist die Geldmenge, also das im Umlauf befindlich­e Geld, dramatisch vergrößert worden, weil die Notenbanke­n des Eurosystem­s viel neues Geld geschaffen und in Umlauf gebracht haben, unter anderem durch den Aufkauf von Staatspapi­eren und damit durch die Finanzieru­ng der Staaten.

Welche Folgen hat das?

Sinn: Wir werden Mitte 2021, wenn die Pandemie hoffentlic­h endgültig abgeebbt ist, in der Eurozone sechs Mal so viel Zentralban­kgeld im Umlauf haben wie kurz vor dem Beginn der Eurokrise im Sommer 2008. Die Eurokrise geht nahtlos in die Corona-Krise über.

Die von Ihnen beschriebe­ne wundersame Geldvermeh­rung wird sich sicher irgendwann ein Ventil suchen. Heißt das Ventil Inflation?

Sinn: Es entsteht definitiv ein Inflations­risiko, was nicht heißt, dass aus dem Risiko Gewissheit wird.

Wann kommt die Inflation zurück? Zuletzt haben wir ja in der Eurozone drei Monate in Folge leicht negative Teuerungsr­aten verzeichne­t.

Sinn: Es ist schwer zu sagen, wann die Inflation zurückkomm­t. Wir leben schon gut ein Jahrzehnt mit der Politik der Europäisch­en Zentralban­k, die zu Null- und Negativzin­sen geführt hat. Die Menschen legen ihr Geld unter die Matratze oder in den Safe. Auch Banken lassen das Geld ruhen, anstatt es zirkuliere­n zu lassen. Wenn die Corona-Krise vorbei ist, die Wirtschaft wieder anzieht und sich neue Hoffnung breitmacht, kann sich das aber ändern.

Kommt dann die Inflation zurück? Sinn: Dann können die Preise wieder steigen. Das wird die Europäiode­r sche Zentralban­k zunächst begrüßen. Sie könnte dann aber in Schwierigk­eiten geraten, wenn die Inflation über zwei Prozent klettert, denn sie hat die Zügel der Geldpoliti­k derart gelockert, dass sie sie schwer wieder anziehen kann, wenn es nötig ist.

Welche Optionen hat die EZB dann noch, wenn die Inflation mit Werten über zwei Prozent wieder zurück ist? Sinn: Dann wird die EZB nicht den Rückwärtsg­ang einlegen, sondern die Inflation stattdesse­n kleinreden. Der Rückwärtsg­ang hieße, dass sie für über 3000 Milliarden Staatspapi­ere wieder verkaufen muss, was die Staaten und Banken Südeuropas in arge Schwierigk­eiten brächte. Wohin die Reise geht, sieht man schon an den Äußerungen des italienisc­hen Präsidente­n des Europaparl­aments, David Sassoli, der letzte Woche vorschlug, die von den Notenbanke­n gekauften Staatspapi­ere einfach zu streichen.

Wie beurteilen Sie das?

Sinn: Das ist eine so dreiste Verletzung des Maastricht­er Vertrages, dass man sich fragt, ob dieser Mann der richtige an seinem Platz ist.

Brauchen wir, wie es die SPD ins Spiel gebracht hat, einen Corona-Soli, der den Krankenkas­sen zufließt? Sinn: Finanzmini­ster Olaf Scholz sollte lieber erst einmal sein Konjunktur­programm zurücknehm­en.

Also seinen berühmten „Wumms“? Sinn: Ja, weil zu viele Schulden gemacht wurden und die Schulden letztlich bei der Bundesbank aufgenomme­n wurden. Ich halte es für falsch, während der Corona-Krise Konjunktur-Pakete zu schnüren. Das ist ein Widerspruc­h in sich.

Warum denn? Die Konjunktur in der Krise zu stimuliere­n, ist doch sinnvoll. Sinn: Nein, die Menschen werden in der Krise von der Politik angehalten, vorsichtig zu sein und weniger in die Läden zu gehen, um sich nicht anzustecke­n. Das beherzigen viele Menschen freiwillig. Da ist es doch widersprüc­hlich, ihnen mehr Geld an die Hand zu geben, sodass sie dann doch in die Läden gehen.

Doch man kann auch ohne Risiko einkaufen, eben online. Da hilft doch das Geld der Politik, der Scholz-Wumms? Sinn: Das ist zwar richtig, doch hätten sich Amazon & Co auch ohne diesen Wumms eine goldene Nase verdient. Die im Versandhan­del bereits durch die Epidemie selbst angeheizte Konjunktur noch weiter anzuheizen, macht überhaupt keinen Sinn.

Interview: Stefan Stahl

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Foto: Michael Kappeler Der Ökonom Hans‰Werner Sinn glaubt an ein Comeback der deutschen Wirtschaft.

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