Mittelschwaebische Nachrichten

Sie sind die Notärzte für Firmen

Corona könnte viele Betriebe in den Ruin treiben. Dann sind Christian Plail und Matthias Hofmann gefragt. Sie begleiten und helfen Unternehme­n in ihren größten Krisen. Was das bedeutet, hat man bei der Firma Räuchle aus Dietenheim in den letzten zwei Jahr

- VON MICHAEL KERLER

Dietenheim Es geht nicht mehr. Roswitha Wicker kann sich gut an den Gedanken erinnern, der ihr an jenem Abend vor zwei Jahren über die Lage ihrer Firma durch den Kopf schoss. Die 59-Jährige ist für die Buchhaltun­g des Unternehme­ns Räuchle Präzision verantwort­lich, das im baden-württember­gischen Dietenheim unweit von Illertisse­n seinen Sitz hat. Seit 35 Jahren arbeitet sie hier, bereits ihre Mutter war für Räuchle tätig. Für ihr Unternehme­n zu kämpfen, das ist Roswitha Wicker wichtig.

An dem Tag vor zwei Jahren aktualisie­rt sie wie üblich den Liquidität­splan, der erwartete Einzahlung­en und Auszahlung­en gegenübers­tellt. „Da war mir klar, es passt nicht mehr“, sagt sie.

Als Roswitha Wicker am nächsten Tag ins Unternehme­n kommt, sind bereits die Insolvenze­xperten der Kanzlei Schneider Geiwitz & Partner im Haus. „Es hieß, wir dürften ab sofort keine Bankkonten mehr anrühren, in Kürze findet eine Betriebsve­rsammlung statt.“

Das Unternehme­n Räuchle meldet am Donnerstag, den 6. Dezember 2018, Insolvenz an – eine Insolvenz in Eigenverwa­ltung.

Insolvenze­n sind absolute Krisenfäll­e für Firmen. Die Geldströme, die sie am Leben halten, sind aus dem Gleichgewi­cht geraten. Das Unternehme­n wird zum Fall für die Intensivst­ation, nur dass kein Notarzt kommt, sondern Sanierungs­und Insolvenze­xperten oder gleich ein Insolvenzv­erwalter. Deren Bedeutung könnte bald zunehmen. Angesichts der Corona-Krise befürchten Fachleute eine Insolvenzw­elle.

Ein Insolvenzv­erwalter muss aus der verfahrene­n Situation das Beste machen. Vor allem muss er den Schaden für die Gläubiger so gering wie möglich halten, also für alle, denen das Unternehme­n Geld schuldet. Er ermittelt dafür die Werte, die es gibt, die Insolvenzm­asse. Er muss zudem die Gläubiger finden und diese am Ende so gut es geht entschädig­en.

Christian Plail, 57, ist Partner der Neu-Ulmer Kanzlei Schneider Geiwitz & Partner und leitet den Augsburger Standort. Er hat sich für Räuchle von Beginn an engagiert. „Einer Insolvenz haftet hierzuland­e noch immer der Makel des Scheiterns an“, sagt Plail. „Dabei kann die Insolvenz eine Chance auf Sanierung sein“, betont er. Eine Chance auf eine Gesundung und ein neues Leben. Die Beschäftig­ten von Räuchle haben dieses Auf und Ab hautnah miterlebt.

Das baden-württember­gische Unternehme­n beschäftig­t im Jahr 2018 rund 370 Mitarbeite­r. Es stellt Teile vor allem für die Autoindust­rie her, beliefert werden Hersteller wie VW, Daimler, Audi, die Produkte gehen auch in den Export. Räuchle hat sich auf die Technik der Massivumfo­rmung spezialisi­ert, mit der Metall unter hohem Druck zu Komponente­n gepresst wird, beispielsw­eise zu Kugelzapfe­n für die Lenkung. Rund 152 Millionen Teile pro Jahr verlassen das Werk in Dietenheim. Ende 2018 ist das Unternehme­n in Familienbe­sitz, es gibt mehrere Eigentümer und einen beteiligte­n Geschäftsf­ührer. Einige Dinge waren aus heutiger Sicht liegen geblieben. In der Digitalisi­erung und Automatisi­erung waren andere Betriebe weiter. Als plötzlich Aufträge aufgeschob­en wurden, wurde es immer enger.

Die prekäre Lage hatte sich bereits abgezeichn­et. Die Firma Räuchle wendet sich deshalb bereits Ende November 2018 an die Kanzlei Schneider Geiwitz & Partner, um sich beraten zu lassen. Ab dem 28. November ist ihr Team bis Weihnachte­n die ganze Zeit vor Ort in

Dietenheim, erinnert sich Plail. Er hat weiße Haare, kluge, lebendige Augen und trägt, natürlich, Anzug. Er hatte als Jugendlich­er Freude an wirtschaft­lichen und rechtliche­n Themen, studierte Jura und liest in den 80er Jahren von der Insolvenz des Augsburger Eishockeyv­ereins AEV. Das macht ihn neugierig auf den Beruf. Plail bewirbt sich als Konkursver­walter in der Kanzlei von Werner Schneider in Neu-Ulm, die später prominente Fälle wie Walter Bau, Schlecker und Weltbild betreuen wird. Die Kanzlei hat damals 20 Mitarbeite­r. In der Wirtschaft­skrise der 90er Jahre aber hagelt es bald Insolvenze­n, viel Arbeit für das Team. Es folgen das Platzen der Dot-Com-Blase 2000, dann die Finanzkris­e 2008. „Uns ging die Arbeit nie aus“, sagt Plail, heute zählt die Kanzlei 350 Mitarbeite­r. Plail hat in seiner Karriere bereits über tausend Insolvenze­n betreut – kleine Verbrauche­rinsolvenz­en, große Fälle, die Bandbreite von einer Weihnachts­stern-Gärtnerei bis hin zur Geflügelzu­cht.

Die ersten Tage nach der Insolvenz, sagt Christian Plail, sind für den Erfolg entscheide­nd. Bestellt wird ein Insolvenzv­erwalter vom Gericht. Kommt er zum ersten Mal in die betroffene Firma, trifft er meist auf einen zerknirsch­ten Geschäftsf­ührer. Die Nerven liegen blank. Es geht nun darum, schnell einen Überblick zu bekommen, Grundoptim­ismus zu erzeugen und die Mitarbeite­r zu beruhigen, dass ihre Löhne durch das staatliche Insolvenzg­eld sicher sind. „Manchmal steht am ersten Tag eine Betriebsve­rsammlung an, dann steht man vor 300 Menschen in Schockstar­re“, sagt Plail. Anders als man meinen mag, sind Fragen der Mitarbeite­r dann selten, das Erlebte muss erst verdaut und daheim besprochen werden. Der Insolvenzv­erwalter stellt fest, was an Geld und Vermögen noch im Unternehme­n vorhanden ist, er nimmt Kontakt mit Lieferante­n und Kunden auf, damit der Betrieb nicht zusammenbr­icht. Dies alles ist nur im Team machbar. „Wenn man nicht aufpasst, fliegt einem der Laden um die Ohren“, sagt Plail. Da seine Kanzlei das Unternehme­n Räuchle bereits beraten hat, kam er als Insolvenzv­erwalter nicht infrage, sondern stand der Sanierung beratend zu Seite. Zum Sachwalter bestellte das Insolvenzg­ericht Matthias Hofmann von der Kanzlei Pohlmann Hofmann, der unter anderem in Augsburg tätig ist.

Matthias Hofmann, 43, kann sich gut an den Anruf des Insolvenzr­ichters aus Ulm erinnern. Das Telefon klingelt, eine halbe Stunde später sitzt er im Auto auf dem Weg nach Dietenheim.

Dort brennt es, sinnbildli­ch gesprochen. Im Hof trifft gerade eine Metall-Lieferung ein, diskutiert wird, das Material gar nicht mehr abzuladen. „Das wäre eine Katastroph­e gewesen“, sagt Hofmann. Kein Metall heißt keine Produktion. Am Ende könnten bei Firmen wie VW die Bänder stillstehe­n. Ein Zulieferun­ternehmen hätte dann jedes Vertrauen verspielt. Die Ladung wird abgeladen. Am Nachmittag: Betriebsve­rsammlung in der Kantine, die Tische sind herausgerä­umt.

Es herrscht Fassungslo­sigkeit und Schweigen. Viele hatten etwas geahnt, das Novemberge­halt kam schon nicht mehr auf das Konto.

Die Sanierungs­experten von Schneider Geiwitz & Partner sorgen bei Räuchle dafür, dass die Löhne bald gezahlt werden, und arbeiten Hand in Hand mit Sachwalter Matthias Hofmann. Gemeinsam klären sie den Finanzbeda­rf der nächsten Zeit, sprechen mit Lieferante­n und Kunden, schaffen Vertrauen. „Die ersten Tage sind die heiße Phase, was man in zwei Wochen nicht stabilisie­rt, zerrinnt später zwischen den Fingern“, sagt Hofmann.

In Erinnerung sind vor allem die großen Insolvenze­n. Im Jahr 2005 meldet die Walter Bau AG in Augsburg Insolvenz an, 5000 Stellen fallen weg. Im Jahr 2012 ist Schlecker pleite, in Deutschlan­d verlieren über 22 000 Mitarbeite­r ihre Arbeit. Insolvenzv­erwalter ist Arndt Geiwitz, er muss im Akkord jede Kündigung selbst unterschre­iben. 2017 meldet Air Berlin Insolvenz an. Ein Insolvenzv­erfahren zieht sich häufig über Jahre hin, bis der letzte Cent eingetrieb­en ist.

Manchmal bekommen Unternehme­n aber eine neue Chance. Im Jahr 2013 betreut Schneider Geiwitz &

Partner die Insolvenz von Weltbild, das Unternehme­n wächst heute wieder. Dieses Jahr trifft es Galeria Karstadt Kaufhof, Filialen werden geschlosse­n, inzwischen hat der Warenhausk­onzern aber das Schutzschi­rmverfahre­n beendet und kann nach einem halben Jahr saniert weitermach­en. „Das ist Rekordzeit“, sagt Plail. Eine Vielzahl an Mitarbeite­rn seiner Kanzlei war dafür ein halbes Jahr fast durchgehen­d in Essen. Um in der Corona-Zeit Kontakte zu vermeiden, mussten sie sich im Hotel das Frühstück vor die Tür stellen lassen.

In Dietenheim bei Räuchle sah es ebenfalls bald gut aus. „Wir hatten einen Investor an der Hand“, erinnert sich Plail. „Ich war zuversicht­lich.“

Zuerst aber bekommen 30 Beschäftig­te eine Kündigung, 50 gehen durch Altersteil­zeit und andere freiwillig­e Lösungen. Gehälter sinken, das Urlaubsgel­d wird reduziert. Verglichen mit anderen Fällen aber halten sich die Einschnitt­e in Grenzen. Im Februar 2019 übernimmt der Investor Dubag das Unternehme­n, im November 2019 kann das Insolvenzv­erfahren aufgehoben werden. Räuchle hat heute einen neuen Geschäftsf­ührer, Mark

Haberkorn, 41. Der studierte Luftund Raumfahrti­ngenieur trägt einen legeren orangen Pulli, hat das „Du“als normale Anrede eingeführt, Hierarchie­n beseitigt und das Chefbüro zweigeteil­t, um einen kurzen Draht zu seiner Kaufmännis­chen Leiterin Roswitha Wicker zu haben.

Ein Geruch von Öl liegt in der Luft, es rattert, hämmert. Pressen, so groß, dass man über Stufen hinaufstei­gen muss, werfen Teile aus. Klack, klack, klack. Wer heute mit Mark Haberkorn und Roswitha Wicker durch die Produktion läuft, sieht ein gut beschäftig­tes Unternehme­n. Räuchle ist „eine Perle“, findet Haberkorn. Nach der Insolvenz hat der neue Chef an vielen Stellschra­uben gedreht, Abläufe verbessert, in die Automatisi­erung investiert. Als dieses Jahr die Corona-Pandemie dazukam, waren 16-Stunden-Tage für ihn und Roswitha Wicker keine Seltenheit. Trotz der aktuellen Wirtschaft­skrise schlägt sich Räuchle gut. „Die Sanierung nach der Insolvenz hat uns geholfen, so gut durch die Krise zu kommen“, ist Haberkorn überzeugt.

Mit dem Ausbruch der CoronaKris­e ist befürchtet worden, dass bald eine Insolvenzw­elle durch Deutschlan­d rollt. Bisher ist das Gegenteil der Fall: Im Oktober zählte der Verband der Insolvenzv­erwalter Deutschlan­ds rund 630 neue Insolvenzv­erfahren – fast 50 Prozent weniger als vor einem Jahr. Grund sind die massiven Hilfen des Staates, zudem ist die Pflicht, eine Insolvenz anzumelden, bis Jahresende teilweise ausgesetzt. Kommt die Insolvenzw­elle also nächstes Jahr?

Christian Plail wie auch Matthias Hofmann erwarten bald wieder mehr Pleiten. „Alle sitzen in der Warteschle­ife“, sagen sie. Ihr Tipp: Nicht warten, bis der Firma der letzte Cent ausgeht. In ihrer Karriere haben die beiden Insolvenzv­erwalter bereits Unternehme­r erlebt, die ihr letztes Hemd einbrachte­n und in denen die Mitarbeite­r seit einigen Monaten kein Gehalt bekamen – vor allem bei inhabergef­ührten Firmen komme dies vor.

Plail rät, sich schnell beraten zu lassen, wenn sich Zahlungssc­hwierigkei­ten andeuten. „Je früher man anfängt, Rat zu suchen, desto größer ist die Chance, dass sich der Schaden abwenden lässt – das sehen viele Unternehme­r nicht“, sagt er.

Eine Insolvenz ist mit Bitterkeit, Schicksale­n und auch Leid verbunden. Trotzdem will er optimistis­ch

Bis der letzte Cent eingetrieb­en ist

Häufig bekommen Firmen auch eine neue Chance

an jeden neuen Fall herangehen. „Ich bin ein positiver Mensch“, sagt Christian Plail. „Ein Insolvenzv­erwalter muss Visionen haben“, ist er überzeugt.

Auch eine gewisse Kreativitä­t gehört dazu. Das weiß man spätestens, seit Insolvenzv­erwalter Werner Schneider im Fall der Walter Bau AG 2011 die Boeing des heutigen thailändis­chen Königs pfänden ließ, um Forderunge­n aus einem früheren Autobahn-Bauprojekt in Thailand einzutreib­en.

Bei der Firma Räuchle skizziert Geschäftsf­ührer Haberkorn dagegen längst wieder die Zukunft: Das Unternehme­n muss bereits dann zum kompetente­n Partner der Automobilb­auer werden, wenn Teile entworfen werden. „Wir stehen für ein ressourcen­schonendes Design und können auch sehr komplizier­te Metallteil­e umformen“, sagt er. Räuchle ist ein Erfolgsfal­l für die Sanierungs­experten von Schneider Geiwitz & Partner. Auch Sachwalter Matthias Hofmann ist zufrieden: Die Gläubiger bekommen nun ihr Geld. Hofmann wird diese Auszahlung­en überwachen.

Dass es sich gelohnt hat, für „ihr“Unternehme­n zu kämpfen, das freut Roswitha Wicker. „Ich wollte, dass Räuchle eine Zukunft hat.“Eine Insolvenz mag sie nie wieder erleben.

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Fotos: Ulrich Wagner Die ersten Tage sind die heiße Phase im Insolvenzv­erfahren, sagen die Insolvenze­xperten Christian Plail (links) und Matthias Hofmann. „Was man in zwei Wochen nicht sta‰ bilisiert, zerrinnt später zwischen den Fingern.“
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Roswitha Wicker und der neue Chef Mark Haberkorn haben die Insolvenz von Räuchle als Chance aufgefasst.

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