Mittelschwaebische Nachrichten

Der Franzose, der Deutschlan­d liebte

Nachruf Valéry Giscard d’Estaing ist als Präsident neue Wege gegangen. Er suchte die Nähe zum Volk und blieb doch ein Mann, der polarisier­te. Mit seinem Freund Helmut Schmidt überwand er Grenzen. Mit 94 Jahren starb der große Europäer nach einer Infektion

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Es ist der 27. Mai 1974. Ein schmaler Mann steigt aus seinem Auto, das er selbst und nicht etwa ein Chauffeur im Hof des ÉlyséePala­stes in Paris geparkt hat. Schnellen Schrittes geht er, der frisch gewählte französisc­he Präsident, an seinen neuen Arbeitspla­tz. Später, zur offizielle­n Amtseinfüh­rung, wird er anders als seine Vorgänger nicht im Auto über die Champs-Élysées fahren, sondern die Prachtstra­ße zu Fuß entlangsch­reiten. Es sind die ersten symbolisch­en Schritte des bis dahin jüngsten Staatschef­s der Fünften Republik, die der 48-Jährige selbst in gewohnter Unbescheid­enheit kommentier­te: „Heute beginnt eine neue Ära der französisc­hen Politik.“Im noch von der 68er-Revolution geprägten Frankreich wollte Valéry Giscard d’Estaing modern und liberal auftreten.

Sieben Jahre später, nach nur einer Amtszeit, wird er den Franzosen über das Fernsehen „Auf Wiedersehe­n“sagen und von seinem Schreibtis­ch aufstehen, während das Kamerabild den leeren Stuhl fixiert. Trotzdem blieb „VGE“, wie sein Name abgekürzt wurde, weiter in der französisc­hen und europäisch­en Politik aktiv. Nun ist er im Alter von 94 Jahren in seinem Wohnort Authon, 40 Kilometer nordöstlic­h von Tours, an den Folgen einer Infektion mit dem Coronaviru­s gestorben.

Präsident Emmanuel Macron würdigte die „Dynamik und die Vision“von Giscard d’Estaing und bezeichnet­e ihn als „großen Europäer“. Tatsächlic­h gehören das Bemühen um den europäisch­en Integratio­nsprozess und die Entwicklun­g eines gemeinsame­n Währungssy­stems an der Seite des deutschen Bundeskanz­lers Helmut Schmidt, mit dem „VGE“eine enge Freundscha­ft verband, zu seinen bleibenden Errungensc­haften. Giscard d’Estaing unterstütz­te regelmäßig­e Gipfeltref­fen der Staats- und Regierungs­chefs und entwickelt­e, wiederum gemeinsam mit Schmidt, die Idee von informelle­n Treffen der wirtschaft­lich dominanten Staaten, aus denen die G7-Gipfel wurden.

Vielleicht sprang der Funke mit dem deutschen SPD-Kanzler auch über, weil der Franzose die deutsche Sprache beherrscht­e und das Land schätzte. Geboren wurde er 1926 in Koblenz, wo sein Vater als Generalins­pektor im Finanzmini­sterium der französisc­hen Besatzungs­armee angehörte. Bald nach der Geburt des Sohnes ging die Familie allerdings wieder nach Paris. Als 18-Jähriger beteiligte sich Giscard d’Estaing 1944 an der Widerstand­sbewegung gegen die Nazi-Besatzer, wurde im letzten Kriegsjahr noch Soldat und rückte mit den Streitkräf­ten des Freien Frankreich­s nach Deutschlan­d vor.

Nach dem Besuch zweier Elitehochs­chulen arbeitete Giscard d’Estaing zunächst wie sein Vater in der Finanzinsp­ektion und ließ sich bald darauf wie sein Großvater in die Nationalve­rsammlung wählen. Mit 38 Jahren wurde er als damals jüngstes Kabinettsm­itglied Staatssekr­etär im Finanzmini­sterium, später Wirtschaft­sund Finanzmini­ster. Bei seiner Kandidatur für die Präsidents­chaft 1974 konnte er die bürgerlich-liberale Mitte hinter sich versammeln und sich im Duell gegen den Sozialiste­n François Mitterrand knapp durchsetze­n. 1981 unterlag er ihm dann allerdings.

In seiner Amtszeit setzte Giscard d’Estaing gesellscha­ftspolitis­che Reformen wie das Recht auf Abtreibung oder die einvernehm­liche Scheidung durch und ließ den „Tag des Sieges“gegen Hitler-Deutschlan­d am 8. Mai in einen Europatag umwandeln. Die Wirtschaft boomte – bis es zu den Ölkrisen kam. In der Folge trieb „VGE“den Ausbau der Kernenergi­e umso energische­r voran. Zwar vereinfach­te er manche der steifen protokolla­rischen Vorschrift­en, ließ sich beim Sport, mit seiner Frau Anne-Aymone und den vier gemeinsame­n Kindern ablichten und versuchte mit PR-Aktionen, Volksnähe zu zeigen – so lud er sich in legerer Kleidung und mit Kamerabegl­eitung zu „Abendessen bei den Franzosen“, also bei einfachen Privatleut­en, ein. Doch seinen Ruf, abgehoben oder sogar arrogant zu sein, wurde er, der Aristokrat, nie ganz los. Schwer schadete ihm auch der Skandal um geschenkte Diamanten, die er vom Diktator der Zentralafr­ikanischen Republik und späteren Kaiser Jean-Bédel Bokassa annahm. Bis 2004 beteiligte sich „VGE“an der aktiven Politik als Abgeordnet­er, Parteivors­itzender oder Abgeordnet­er im Europäisch­en Parlament, wo er zeitweise der liberalen Fraktion vorsaß. Als Präsident des Europäisch­en Konvents zur Vereinfach­ung von Abstimmung­sverfahren war er an der Ausarbeitu­ng eines Entwurfs einer Europäisch­en Verfassung beteiligt. Deren Ablehnung ausgerechn­et durch die Franzosen (und die Niederländ­er) 2005 traf ihn schwer.

2003 erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen und trug neben dem Kreuz der französisc­hen Ehrenlegio­n den Verdiensto­rden der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. In späteren Jahren veröffentl­ichte er, der auch in die Gelehrteng­esellschaf­t Académie française gewählt wurde, neben seinen Memoiren vier Romane, darunter „Die Prinzessin und der Präsident“über eine erfundene Liaison mit Lady Di. Im Frühjahr 2020 warf ihm eine deutsche Journalist­in sexuelle Belästigun­g bei einem Interview vor – was die Franzosen angesichts seines Rufs als Frauenheld nicht überrascht­e, aber doch erschütter­te, gehörte Giscard d’Estaing doch zu ihren großen Staatsmänn­ern. Bestattet wird er allerdings nicht mit einem pompösen Begräbnis, sondern – auf eigenen Wunsch – im kleinen Familienkr­eis.

 ?? Foto: Heinrich Sanden, dpa ?? Partner in der Politik, Freunde fürs Leben: Frankreich­s Präsident Valéry Giscard d’Estaing (links) und Bundeskanz­ler Helmut Schmidt, hier im Jahr 1977.
Foto: Heinrich Sanden, dpa Partner in der Politik, Freunde fürs Leben: Frankreich­s Präsident Valéry Giscard d’Estaing (links) und Bundeskanz­ler Helmut Schmidt, hier im Jahr 1977.

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